Fünf Minuten vor Mitternacht. Celina Weithaas
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Читать онлайн книгу Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas страница 11
Die nächtliche Stadt hat nichts Verzauberndes an sich. Sie wirkt stumpf und abweisend. Restlos verlassen. Das rege Treiben des Tages hat sich in den Schatten verloren. Nach und nach sickert die Kälte durch den dünnen Stoff meines Mantels und kein Zimmermädchen ist zur Stelle, das mich in eine schützende Decke hüllt. Kein Butler, der wärmere und bequemere Schuhe für mich bereithält, und niemand, der mir Wärmekissen für meine empfindlichen Finger geben kann. Ich verfluche mich. Aus welchem Grund habe ich alle Vernunft fahren lassen und bin allein auf die Straßen spaziert?
Wo bin ich überhaupt? Ruckartig bleibe ich stehen und sehe mich um. Tausend Fassaden teurer und mäßig gepflegter Läden schmücken die Straßen, Ampeln wechseln die Farben und Autos rasen an mir vorbei. Wie weit bin ich gelaufen ohne aufzusehen? Wie oft abgebogen? Beißender Wind kriecht mir unter die Kapuze und den Hals hinab, zusammen mit eisigem, nassem Regen. Vorwurfsvoll niese ich. Niemand, der mir ein Taschentuch reicht. Ich habe nicht einmal mein IPhone dabei, um meinen Chauffeur zu kontaktieren. Die Entscheidung allein vor die Tür zu gehen, hat mich in eine Welt gesandt, in der ich mich kaum hilfloser fühlen könnte. Diese Straßen sind nicht die, die ich kenne. Sie sind schmutzig und nur vereinzelt belebt von schlurfenden oder eilenden Gestalten, die dichte Schatten hinter sich herziehen. Neugierige Blicke werden mir von vorbeihastenden Passanten zugeworfen. Sofort ziehe ich mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. Man darf mich nicht erkennen. Der Teufel bricht los, sobald die Presse von meinem Ausflug Wind bekommt. Ich kann mir schon denken, was für Fantasien dann gesponnen werden von heimlichen Affären, Drogenkonsum und zweiten Identitäten. Alles, solange es die Menschen dazu bringt, die bunten Klatschblätter zu kaufen. Kurz ziehe ich es in Betracht, einen Passanten zu fragen, wo ich mich befinde und wie ich zurück in mein Apartment gelange. Ich mache wenige Schritte zurück in den Schutz eines alten Vordaches. Laut prasselt der Regen auf das Metall.
Niemand dieser Menschen der Nacht wirkt, als würde er sich häufig genug in gehobener Gesellschaft befinden, um mich angemessen anzusprechen und zu betiteln. Ich drehe auf dem Absatz um, sehe hinter mich. Das immer gleiche Bild von Läden und Menschen, die nie zu schlafen scheinen. Einige von ihnen tragen stinkende, fransige Jacken, andere ausgetretene Schuhe, die die längste Zeit weiß gewesen sind. Widerwärtig. Schlagartig verstehe ich, warum Achim diese soziale Schicht meidet und meine Eltern wenig von Wohltätigkeitsgalas halten: An diese Menschen ist jeder Cent verschwendet. Man hat ihnen die Chance geboten, sich nach oben zu arbeiten, und sie schlugen sie aus. Sie haben beschlossen, ihr Leben zwischen kalten Fassaden und stinkenden Straßen zu fristen. Ihre Ambitionen nennt man Feigheit und Faulheit, beides Eigenschaften, die nicht belohnt werden sollten. Und doch tragen die wenigen Menschen beides zur Schau, als wäre es gewöhnlich und annehmbar, zu versagen. Ich rümpfe die Nase und hebe meinen Rock einige Zentimeter an, um ihn nicht mit ihrem Schmutz zu besudeln. Leere Dosen liegen an den Straßenrändern und unter den Gullideckeln hört man das Wasser in einem reißenden Fluss rauschen, während immer neues nachkommt, mir in Strömen den Körper hinabfließt und mich zittern lässt. Ich vermisse Achims Wärme neben mir, die Sicherheit, die er mir vermittelt. Ich will, dass mein Kindermädchen mir den Schirm über dem Kopf aufspannt und der Chauffeur jetzt sofort vorfährt, damit das Frieren ein Ende hat und ich zurück in mein Bett komme. Es ist viel zu spät für einen Spaziergang. Morgen werde ich in aller Frühe zum Brunch erwartet. Nicht morgen. Heute. In wenigen Stunden. Die Visagistinnen werden ihre liebe Mühe damit haben, die Augenringe zu kaschieren und mich frisch und ausgeruht wirken zu lassen. Grölend kicken unreife Jungen vor mir Dosen umher, feuern sich gegenseitig an, nur um das Metall mit dem Fuß gegen eine Mauer zu stoßen. Ich schnaube abfällig. Wie ärmlich man sein muss, im Alter von zwanzig Jahren mit einer Dose Ball zu spielen.
Der Regen wird, wenn möglich, noch stärker und trommelt unnachgiebig auf mich ein. Ich bin durchnässt bis auf die Knochen. Unter der Kapuze des Mantels läuft mir das Wasser die Schultern hinab. Welcher Weg führt nur in mein Apartment? Irgendwo hier … dort … wo? Die Umstände zwingen mich zu erbärmlichen Maßnahmen. Ich berühre den Ärmel eines Mannes, der leere Flaschen und durchweichtes Papier in einen Rucksack stopft. Er stinkt nach verbrannter Vanille und Tabak. „Entschuldigen Sie”, sage ich, „ist Ihnen der Weg zum Clark-Tower bekannt?“ Meine Zunge bewegt sich nur widerwillig. Es ist unsagbar schwer, fragende Worte an jemanden wie ihn zu richten. Jemanden ohne Stil und Klasse. Der Mann blickt auf und schenkt mir ein zahnloses Grinsen, die Zigarre im Mundwinkel klemmend. Sein Gesicht wirkt trocken, unberührt von dem strömenden Regen, der wie ein schützender Vorhang zwischen uns hängt und jedes Geräusch zu tilgen beginnt. Um uns herum herrscht zähe Stille. Als wurde die Zeit für jeden angehalten außer für mich. Und diesen Proleten. „Immer der Nase nach, Kleines.“ Seine Stimme klingt rauchig und verzerrt, uralt. Sein Grinsen wird noch eine Nuance breiter. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als er nach der nächsten Flasche greift und sie in seinem Rucksack verschwinden lässt. Nutzloses Pack. Eine Dame steht vor ihm und er bietet ihr nicht einmal den grauen Mantel an. Es ist mir gleichgültig, dass der Gestank sich in dem billigen Stoff eingenistet hat. Das Kleidungsstück scheint warm zu sein und wasserfest. Im Gegensatz zu dem, was ich trage. Der Mann stopft die letzte Flasche hinein, ehe er durch den Regen hindurch verschwindet, ohne sich zu mir umzudrehen. Der dichte Vorhang verschluckt ihn nach wenigen Metern und sperrt mich in meine eigene, durchweichte Welt.
Ich verfluche den Mann, fröstle schrecklich, während meine Hände langsam taub werden. Ob Achim inzwischen aufgewacht ist und bemerkt hat, dass ich nicht mehr neben ihm liege? Hoffentlich schickt er einen Suchtrupp los, der mich aus dieser Eiseskälte rettet. Die Füße tun weh in den Schuhen und meine Zehen frieren gemeinsam mit den Fingern ab. Resigniert schlinge ich die Arme um mich. Nie wieder. Nie wieder tue ich etwas derart Dummes und Unüberlegtes.
Unsicher bewege ich mich über den verdreckten Gehweg fort, sehe Valentinohandtaschen in einem Schaufenster rechts von mir, ebenso unerreichbar wie mein Bett. Wenn doch nur der Ladeninhaber noch anwesend wäre. Er würde mich erkennen und mir das Telefon zur Verfügung stellen, damit ich meinen Chauffeur benachrichtigen kann. Bei dem nächsten Schritt stolpere ich restlos erschöpft über meine eigenen Füße und kann mein Gleichgewicht nicht wiederfinden. Der Saum meines Kleides wickelt sich um die hohen Absätze meiner Schuhe und tut sein Übriges. Fluchend falle ich zu Boden. Niemand streckt die Arme nach mir aus, um mich aufzufangen. Nicht einer dreht sich nach mir um. Als wäre ich nichts weiter als ein ungezogenes Gör auf der Straße, das im Schutz der Dunkelheit zu einem ihrer zahlreichen Liebhaber eilt.
Wasser läuft mir in die Augen und der Gestank von Urin wird derart penetrant, dass ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Er übertüncht jeden Gestank von Abgas, Regen und Asphalt. Das stetige Rauschen ebbt ab. Finsternis. Mein Herz stolpert entsetzt. Ist der Strom ausgefallen? Ein Grölen zu meiner Rechten lässt mich herumzucken. Neben mir steht ein Haus, an das ich mich nicht erinnern kann, klein und brüchig. Es wirkt gänzlich fehl am Platz. Warmes, flackerndes Licht kommt aus seinem Inneren und trunkene Schemen tanzen vor seinen Fenstern. Ich schlinge die Arme fester um mich und stehe auf, nur um in der nächsten Sekunde erneut umzuknicken. Panik steigt in mir auf. Das sind Kopfsteinpflaster. Und… kleben an meinen Händen Fäkalien? Ich hebe sie zu meinem Gesicht und würge. Selbst in der Dunkelheit kann ich die widerwärtig stinkenden Flecken auf dem teuren Stoff meines Kleides ausmachen, das wie eine zweite Haut an mir klebt. In der Ferne schlägt eine Uhr, gefolgt von einem unbarmherzigen Donnern. Eine Turmuhr? Nichts erinnert an die hellerleuchtete Straße, durch die ich vor wenigen Wimpernschlägen noch irrte. Der Regen ist versiegt und keine Wolke bedeckt den Himmel. Unzählige Sterne, viel mehr, als ich je zuvor in meinem Leben gesehen habe, hängen am Zelt über mir und funkeln weiß wie kostbarste Diamanten. Sie sind die einzigen Lichtquellen neben dem einsamen Haus, in dessen Inneren die Proleten sich betrinken und ihren letzten Anstand vergessen.
Hinter mir ein leises Keuchen. Ich drehe mich um. Schemenhaft steht dort ein Mensch, erleuchtet von den Lampen des schäbigen Gebäudes, und deutet unanständig mit nacktem Finger auf mich. „Eyne Hex“, japst er. Irritiert lege ich die Stirn in Falten. Aus dem Haus strömen nach und nach die Besucher, Grölen brüllt und vereinzelte Schreie erklingen. Weibliche Schreie? Meine Muskeln verspannen sich. Die Frauen wirken, als hätten sie Schmerzen. Brodelnde