MONTE. Eveline Keller
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Das war inzwischen lange her. Sehr lange. Seither warteten sie. Mara zählte die Tage. Sie konnte nur bis hundert zählen, und nachdem sie das dritte Mal so weit gekommen war, hatte sie es aufgegeben. Sie verstand nicht, was Papa aufhielt. Und auch Andrea fragte ständig: „Wie lange sind ‚ein paar Tage‘?“
„Für uns nicht lange, über-, vielleicht überübermorgen. Die Sonne geht unter, es wird Nacht, dann morgen und übermorgen“, führte Mara mit ernstem Gesicht aus.
„Und für die Erwachsenen?“
„Für die ist das länger. Für sie sind es viele Tage, weil sie groß sind.“
„Und für Papa? Wie lange sind ‚ein paar Tage‘ für ihn?“
Mara dachte: Ewig! Doch das konnte sie ihr nicht sagen. Sie wusste keine passende Erwiderung und wandte sich bei dieser Frage immer ab, sie blieb der kleinen Schwester die Antwort schuldig.
Ob es vielleicht daran lag, dass sie zu wenig brav waren oder zu wenig beteten?
Nach ihrem ersten Tag auf dem Hof hatten sie schnell die zwei Gesichter von Tremonti kennengelernt. Das böse, zynische trug er, wenn er hier alleine mit ihnen war. Mit dem freundlichen und gewinnenden hatte er sie nur begrüßt, seitdem hob er es sich für Fremde und besondere Anlässe auf. Am ersten Tag hatten sie ihn noch drollig gefunden, am nächsten Tag war damit Schluss gewesen.
Sie mussten lernen, dass ihre volle Aufmerksamkeit seinem Wohlbefinden zu gelten hatte. Ihn zufriedenzustellen, war von nun an ihre Aufgabe. Sie sollten putzen, waschen, kochen und die Tiere versorgen. Da waren die wenigen, ungestörten Momente wie jetzt sehr kostbar.
Ihre Einführungszeit war hart und tränenreich gewesen. Tremonti zeigte niemals Geduld und seine Pädagogik beschränkte sich aufs Schlägeausteilen. Eine Methode, die die Mädchen zwang, sehr schnell zu kapieren. Fiel das Resultat für ihn ungenügend aus, bestrafte er sie, indem er sie ins Loch sperrte, einen in den Boden eingelassenen ehemaligen Futterbehälter. Darin war es so eng, dass kein Platz mehr war, um Angst zu haben.
Seine Hunde liebte Tremonti mehr als die Menschen und ganz bestimmt mehr als Andrea und Mara. Bei der kleinsten Verfehlung wurde er grob. Egal wie sehr sie sich bemühten, sie konnten es ihm oft nicht recht machen. Dann brüllte er herum, sie würden ihm die letzten Haare vom Kopf essen, schüttelte sie oder teilte Kopfnüsse aus. Manchmal war es so schlimm, dass nicht mal mehr Weinen half. Ihre Sehnsucht, dass sich alles wie ein böser Traum auflösen möge, wuchs von Tag zu Tag.
Des Nachts beteten sie, dass Papa sie abholen käme. Doch er kam nicht.
3.
Furrers Wut auf die Behörde konnte ich ein wenig verstehen. Als jüngstes und neuestes Mitglied hatte auch ich meine liebe Not, mich in den behördeneigenen Groove einzuleben. Die einen wollten sinnvolle Projekte unterstützen, die anderen darauf achten, dass die Steuergelder nicht verschwendet wurden.
Als Neue war es für mich eine große Herausforderung, mich im Behördenhandbuch, den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS und den Gesetzesvorlagen zurechtzufinden. Denn „die Hubers und Müllers“ verhielten sich selten nach den Buchstaben der Reglemente. Genau da kam die Behörde ins Spiel, sie würde die Bestimmungen im Sinne der Bürger auslegen.
Die Mitglieder der Sozialbehörde trafen sich jeden ersten Montag im Monat zur Sitzung. So auch am Abend vor Furrers Auftritt in meinem Wohnzimmer. Im Raum war es stickig warm, was der reibungslosen Abwicklung der Geschäfte nicht gerade förderlich war. Schon den ganzen Tag über hatte eine ungewöhnliche Hitze geherrscht und auch die weit geöffneten Fenster hatten keine Erleichterung gebracht.
Die Gemeinderätin Uschi hatte den Vorsitz. Sonst immer duschfrisch, hatten sich sogar bei ihr Schweißperlen über den Lippen gebildet. Ursula Brenner, verheiratet mit einem Beamten, schlank mit leichtem Hang zur Auszehrung, war spezialisiert auf Frauenfragen und setzte sich für mehr Gleichberechtigung ein. Ständig um ihre Stellung bemüht, kippte ihr Ton schnell ins Quengelige; wenn das nichts brachte, flossen schnell mal Tränen. Unterstützung holte sie sich bei der Christlichen Volkspartei. Ihr aktueller Familienzuwachs hieß Lasso von Hohenklaue, ein Shetland-Terrier, in den sie furchtbar vernarrt war.
Der Dienstälteste im Team war Markus Kehl, „Bankkaufmann a. B.“, wie er mit einem Grinsen erklärte, bei dem er nur die Unterlippe verzog. „A. B.“ hieß bei ihm: auf Bewährung.
„Mit ü-sechzig sucht der Chef immer einen Grund, dich zu zwangspensionieren. Egal ob du drei oder dreißig Jahre für die Firma geschuftet hast, bist du jetzt zu alt, zu teuer und zu unflexibel geworden. Mit dem kleinsten Fehler lieferst du ihm den Steilpass, dich elegant loszuwerden.“ Das ehemalige Nachwuchstalent im Radsport, und immer noch leidenschaftlicher Radler, war geschieden und sprach im Namen der Freisinnig-Demokratischen Partei. Sein kohlschwarzes Haar verdankte er seiner sizilianischen Mutter. Das Bankeroutfit mit blauem Anzug, Hemd und Krawatte umspielte seine ansehnliche Wampe, die er nicht ohne Stolz trug. Bei Sitzungen hängte er sein Sakko über die Stuhllehne, reckte zwischendurch seine Arme und zeigte offen, wo sein Deo versagt hatte.
Robin Haas, vierundzwanzig Jahre jünger, gelernter Automechaniker, der sich zum Informatiker hatte umschulen lassen, war der Dritte im Team. Er besaß ein Start-up-Unternehmen, bestehend aus einem Lehrling und der Frauenstimme eines Telefonservice-Dienstleisters. Sein Handy klebte ihm in Form eines Headsets ununterbrochen am Ohr, während der Sitzungen tippte er immer wieder verstohlen eine SMS. Ebenfalls der FDP angetan, fühlte er sich verpflichtet, erfolgreich zu sein und der Welt seinen Stempel aufzudrücken. Mit Vorliebe führte er den freispielenden Markt ins Feld und beklagte wiehernde Amtsschimmel. Ständig musste er seine Intelligenz unter Beweis stellen und riss gerne guerillamässig die Gesprächsleitung an sich. Seine Taktik war so einfach wie effektiv: Er quatschte so lange auf die Kontrahenten ein, bis sie überdrüssig einknickten. Am liebsten trug er bügelfreie Polos und Jeans. Auch ihm hatten bei der gestrigen Sitzung die halblangen Locken, die einem Hausdach ähnelten, verschwitzt und welk am Kopf geklebt.
Dora Battaglia war ein Jahr jünger als er und unsere Finanzvorsteherin. Als Hausfrau und Mutter von drei süßen Kindern und Mitglied der Schweizer Volkspartei wirkte sie dankbar, sich auch außerhalb ihres Haushaltes nützlich machen zu können. Trotz ihres quirligen Naturells gab sie sich bodenständig couragiert, ihre Argumente untermauerte sie gerne mit Rechenaufgaben. In der Hitze der Sitzung war ihr sonst so sprühendes Wesen verdorrt.
Jüngstes und neuestes Mitglied der Sozialbehörde war ich, Janet, Protokollführerin und keiner Partei zugetan. Für die Linken war ich zu liberal, für die Freisinnigen zu sozial, die Volkspartei mit ihrer Schweizer-Kreuz-Manie gab mir stets das Gefühl, der falschen Religion anzugehören, und die Christlichen überließen mir zu oft den Letztgenannten das Feld. Meine politische Meinung berücksichtigte von allem ein bisschen. Das genügte offenbar auch meinen Wählern.
Zu Beginn der Sitzung forderte Uschi uns auf, uns kurzzufassen, um mit den Traktanden durchzukommen. Ein fataler Fehler, denn damit war ein schnelles Abhaken der Punkte bereits unmöglich geworden. Robin war nicht einverstanden, Fakten könnten nicht einfach weggelassen werden, um die Sitzung zu straffen, monierte er, man müsse sich schon die Zeit nehmen und alles gegeneinander abwägen und so weiter und so fort. Uschi unterbrach ihn und gestand ihm zu, wichtige Diskussionen nicht unterlassen zu müssen, was Markus Kehl zu der Bemerkung veranlasste, wir verplemperten sowieso viel zu viel Zeit. Wenn sich alle auf die Sitzung vorbereiten würden, wären wir schneller fertig. Das wiederum war das Stichwort für eines von Doras Rechenbeispielen und ich lehnte mich resigniert zurück, denn die nun folgende Diskussion über Belanglosigkeiten war nicht mehr aufzuhalten.
„Das