Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke страница 5
Valeria, die steif dagelegen und den Atem angehalten hatte, richtete sich auf. »Luisa«, flüsterte sie, während sie von einem warmen Glücksgefühl durchströmt wurde. »Du bist wieder da. Endlich!«
»Was du nicht sagst.« Sie lächelte, aber dann sagte sie streng: »Sei doch froh, dass du von hier wegkommst. Weg von ihr. Sie ist eine Mörderin.«
»Sei still!«, schrie Valeria. »Das ist nicht wahr!«
»Und ob«, meinte Luisa gelassen. »Du weißt es doch genau. Eine Mörderin und eine Lügnerin. Warum sagt sie dir nicht, was los ist und wer der Kerl ist, den sie erschossen hat? Schickt dich einfach nur weg!« Luisa schnaubte verächtlich und strich sich eine Locke aus der Stirn. Dann meinte sie etwas milder: »Na, wenigstens ist es Rom. Es hätte schlimmer kommen können.«
»Aber ich will nicht allein nach Rom!«, rief Valeria erbost.
Wolken trieben Schatten über den Mond, Luisas Umriss verschmolz mit der Dunkelheit.
»Luisa?«
Keine Antwort. Valeria wartete. Aber im Grunde wusste sie, dass Luisa bereits weg war, denn sie spürte sie nicht mehr. Stattdessen hörte sie Schritte vor der Tür, ihre Mutter kam ins Zimmer gestürmt und knipste das Licht an. Mit ihrem langen Nachthemd und dem offenen lockigen Haar sah sie aus wie die Maria Magdalena auf dem Gemälde, das in der Dorfkirche über dem Seitenaltar hing.
Eine Mörderin.
»Was ist passiert? Mit wem redest du?«
Rosas Blick war hellwach und ihre Stimme klar. Demnach hatte auch sie noch nicht geschlafen.
»Ein Albtraum«, antwortete Valeria. Noch angestachelt von Luisas Worten setzte sie aufmüpfig hinzu. »Wundert dich das etwa?«
Rosa seufzte nur und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf jetzt«, sagte sie und ging wieder hinaus.
Valeria rollte sich ein wie ein Embryo und schloss die Augen. Luisas Besuch hatte ihr gutgetan. Die übergroße Angst war nun einer fiebrigen Aufregung gewichen. Was wahrscheinlich ganz normal war vor einer Reise.
»Valeria! Aufstehen!«
Sie blinzelte, streckte sich. Fahles Licht sickerte ins Zimmer. Was sollte denn das, es war doch noch viel zu früh? Die Sonne hatte es noch nicht einmal über den Bergkamm geschafft. Mit dem nächsten Wimpernschlag brach die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse über Valeria herein wie ein Schwall kaltes Wasser. Ihre Mutter mit der Flinte auf der Treppe, die glasigen Augen des Toten im Hof, das schwarze Blut auf seiner Brust, auf den Steinen, die Fliegen …
»Valeria, beeil dich! Der Zug wartet nicht auf uns.«
Nach Rom. Das ganze Ausmaß ihres Elends war plötzlich wieder präsent. Trotz der Bleigewichte an Armen und Beinen stand Valeria auf, wusch sich, zog sich an. An Frühstück war nicht zu denken, ihr Magen war wie zugeschnürt, sodass Rosa schließlich zwei Panini mit Käse belegte und diese für später einpackte.
Fieberhaft suchte Valeria nach Worten, um ihre Mutter doch noch umzustimmen. Irgendein Argument musste es doch geben, etwas, das ihr gestern nicht eingefallen war, eine magische Formel, die sie erlösen würde.
Stattdessen kamen ihr nur Luisas Worte von gestern Nacht in den Sinn. Eine Mörderin. Eine Lügnerin.
Sollte sie ihrer Mutter sagen, dass Luisa zurückgekommen war? Aber Valeria wusste noch zu gut, wie Rosa das letzte Mal reagiert hatte: Es sei ja ganz amüsant, wenn eine Sechsjährige eine imaginäre Schwester habe, der man einen eigenen Teller und eine Zahnbürste hinstellen müsse, hatte Rosa eingeräumt, aber bei einem Teenager sei das doch einigermaßen besorgniserregend. Dabei hatte Rosa jedoch weniger besorgt, sondern vielmehr gereizt geklungen und auch so ausgesehen.
Von da an war Luisa verschwunden gewesen, geradeso, als hätte sie Rosas Worte gehört. Vier Jahre war das nun her, damals war Valeria dreizehn gewesen. Und nun war sie zurückgekommen.
Die Welt ist nicht so, wie wir sie sehen. Rosas Worte. Ja, dachte Valeria, und Luisa ist der beste Beweis dafür. Dennoch erschien es ihr im Augenblick ratsamer, den Mund zu halten. Denn wenn sie sich recht erinnerte, hatten Luisa und ihre Mutter immer schon ein wenig auf Kriegsfuß gestanden.
»Bist du so weit?«
»Ich muss mich noch von den Hühnern verabschieden.«
»Sei nicht albern!«
Rosa stand exakt an der Stelle, an der gestern der Tote gelegen hatte, und klapperte mit den Autoschlüsseln. Die Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jetzt konnte man nur noch hoffen, dass der betagte Landrover nicht anspringen würde, wie es bisweilen vorkam. Mit der ganzen Kraft ihrer Gedanken beschwor Valeria ihre Wunschvorstellung herauf: ihre Mutter, fluchend über den Motorraum gebeugt, Kleid und Hände ölverschmiert, während in Assisi der Frecciabianca ohne Valeria abfuhr. Aber wie zum Hohn startete der Wagen, kaum dass der Schlüssel das Schloss berührt und Rosas Sandalette das Gaspedal durchgedrückt hatte. Ihr blaues Sommerkleid blieb unbefleckt und weder Flüche noch Klagen über englische Autos kamen über ihre Lippen, die sie heute kirschrot geschminkt hatte.
Das Letzte, was Valeria von ihrem Zuhause sah, war der Falke, der den Wagen spielerisch umsegelte, als dieser die Serpentinen hinabfuhr. Aus seiner Perspektive musste ihr Unglück lächerlich wirken: eine Siebzehnjährige, die in einem Auto sitzt und für ein paar Wochen zu ihrem Vater nach Rom fährt. Die schönste Stadt der Welt, wie Mr Wilson zu schwärmen pflegte. Ja, wenn man es so betrachtete … Wenn man die Sache mit dem erschossenen Mann vor der Haustür und ein paar andere Nebensächlichkeiten ignorierte, dann hatte Luisa vielleicht doch recht: Valeria sollte froh sein, von hier wegzukommen und ein Stück von der Welt da draußen zu sehen.
Schließlich verlor sie auch den Falken aus den Augen. Stocksteif saß sie da und schaute zum Seitenfenster hinaus, damit Rosa nicht sah, wie sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
Offenbar war Rosa Tomaso über Nacht auf die Idee gekommen, ihrer Tochter das Ganze als Bildungsreise zu verkaufen. Während der Wagen die Kurven nahm und über die Schlaglöcher holperte, schwärmte sie, wie lebendig und interessant Rom doch sei, und zählte wie eine Reiseführerin all die Monumente und Museen auf, die Valeria sich dort unbedingt ansehen müsse. Sie ging sogar so weit, sich selbst anzuklagen: dass Valeria bislang noch nie in Rom gewesen sei, sei ein geradezu unverzeihliches Versäumnis, an dem sie, Rosa, die Schuld trage.
Valeria hörte sich den ganzen Stuss mit wachsender Fassungslosigkeit an und verweigerte bockig jeden Kommentar. Die Lippen versiegelt, betrachtete sie das graue Band der Straße, die umgepflügten Felder und die überreifen Sonnenblumen, die aussahen wie schwarze Skelette mit herabhängenden Köpfen. Ein unsichtbares Gewicht lastete auf ihr und ließ sie nur schwer atmen. Ihr Leben lang hatte Valeria in Rosas Bannkreis gelebt, hatte sie bewundert und beinahe jede Minute an ihrer Seite verbracht. Rosa war für sie das Maß aller Dinge gewesen, ihr Wort war Gesetz. Erst als Valeria älter geworden war, mit zwölf oder dreizehn, hatte sie angefangen, allein Spaziergänge zu unternehmen oder hin und wieder mit Gleichaltrigen einen Nachmittag im Dorf zu verbringen. Aber noch nie hatte sie ohne Rosa irgendwo anders übernachtet. Allein die Vorstellung war beklemmend. Und nun schickte Rosa sie von einem Tag auf den anderen für unbestimmte Zeit fort.
»Möchtest du ein Lakritzbonbon? Vielleicht hilft es ja, damit du die Zähne wieder auseinanderbekommst.«