Küstengold. Kurt Geisler
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Die sollte sich noch weiter verschlimmern, denn jetzt bog eine schwere dunkle Limousine mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf den Wirtschaftsweg ein.
Hansen fluchte lauthals. »Noch mehr Vollidioten! Wer kommt nun schon wieder? Auf diesem Acker herrscht mehr Betrieb als auf dem Hamburger Hauptbahnhof.«
Forsch trat er dem ankommenden Fahrzeug entgegen und hob die Arme als eindeutige Geste zum sofortigen Anhalten.
Erst jetzt konnte er das Nummernschild erkennen. Es war Polizeidirektor Magnussen, sein Chef.
Kein Bier vor vier
Viel zu früh rissen schreiende Möwen Stuhr aus seinem Schlaf. Konnten sie nicht wenigstens am heiligen Sonntag einmal Ruhe geben? Vermutlich suchten sie Beute hinter den Reinigungsfahrzeugen, die wie Heinzelmännchen frühmorgens den Sand vor Sankt Peter säuberten.
Schlaftrunken schlurfte Stuhr zur Terrasse seines Hotel-Apartments. Sein Kopf schmerzte. Dieses Mal aber nicht vom Alkohol, denn er hatte nach dem gestrigen frühmorgendlichen Auftakt mit Kommissar Hansen beschlossen, den Samstag über die Finger davon zu lassen. Er hatte einen lockeren Tag im Strandkorb verbracht und sich dabei gehörig den Pelz verbrannt. Selbst in der Spiegelung der Terrassenscheibe war zu erkennen, dass er sich tüchtig verbrannt hatte. Aber was sollte es? Er cremte sich nach dem Duschen gründlich ein und schritt gemächlich die Treppen zum Frühstücksraum hinunter. Die Rezeptionistin stoppte seinen Gang mit erhobener Sonntagszeitung.
»Moin, Herr Stuhr. Da sollten Sie einmal hineinschauen. Im hinteren Teil gibt es einen umfassenden Bericht über das Strandleben in St. Peter-Ording mit aufschlussreichen Fotos. Eine lohnende Strandlektüre.«
Augenzwinkernd übergab sie ihm die Postille. Stuhr dankte und schlurfte zum Frühstücksraum, in dem er seinen Morgenkaffee einnahm. Lesen mochte er nicht, Essen auch nicht. Nachdenklich schaute er auf die Strandterrasse seines Hotels.
Gestern auf dem Sand hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Es war ein langer kalter Winter ohne Jenny gewesen. So schwer, wie sie manchmal zu ertragen war, so sehr fehlte sie ihm. Er müsste in seinem Leben vermutlich einiges ändern, wenn er eine zweite Chance bei ihr bekommen würde. Nur was? Er musste herausbekommen, was Frauen wie Jenny denken.
Die freundliche Bedienung lenkte ihn kurzfristig ab.
»Nichts gegessen? Herr Stuhr, Sie dürfen nicht immer nur Ihren Gedanken nachhängen. Gehen Sie doch einmal an unser leckeres Frühstücksbuffet.«
Der ungnädige Blick von Stuhr lehrte sie, sich auf ihre Dienstleistungsfunktion zurückzuziehen. »Soll ich das Kaffeegeschirr abräumen?«
Stuhrs Entscheidung stand fest. Er würde in seiner Strandbuchhandlung einen dieser bunten Frauenromane erstehen, die der selbstbewussten Frau eine lebenswerte Zukunft versprachen – selbstverständlich ohne Mann.
Die Bedienung wich noch nicht von der Stelle. »Kann das weg?«
Stuhr schüttelte gedankenverloren den Kopf, ergriff die Sonntagszeitung und verließ dankend den Frühstücksraum. Gegen den Strom der Strandgänger gelangte er zur Buchhandlung und holte tief Luft, bevor er den Laden betrat. Es fiel ihm schwer, sich an das Regal der Frauenromane mit den farbenfrohen Buchumschlägen heranzutasten, ohne von den Verkaufskräften bemerkt zu werden. Aber es musste sein.
Er spähte nach anderen Kunden, die ihn beobachten könnten, aber die waren alle selbst mit dem Stöbern beschäftigt. So konzentrierte er sich auf seine Suche. Zeit für eine inhaltliche Recherche war nicht gegeben, er musste nach pastellfarbenen Buchrücken und einschlägigen Titeln gehen.
›Endlich frei‹. Nein, dieser Buchtitel auf dem hellgelben Buchrücken entsprach nicht dem, was er sich von Jenny erwartete.
Vielleicht eher das Buch nebenan. ›Mit 50 hat man noch Träume.‹
Unbemerkt zog er das Buch aus dem Regal. Das hellblaue Cover mit den hochhackigen roten Pumps würde Jenny sicherlich ansprechen, wenngleich der Untertitel etwas martialisch klang. ›Vom Blitzschlag zum Befreiungsschlag.‹
»Das wird Ihrer Frau sicher gefallen.« Die aus dem Nichts zur Beratung herangeschwebte Verkäuferin bemerkte nicht, dass sich Stuhr erschrocken hatte. Sie rasselte ihre Verkaufsargumente herunter. »Das Büchlein haben wir schon hundertfach verkauft. Es ist diesen Sommer der Renner an der Nordseeküste. Nur 11,80, aber nicht ganz ohne.«
Stuhr zog die Augenbrauen hoch. »Nicht ganz ohne?«
»Ja, eine Bekannte von mir hat es über Ostern gelesen. Zu Pfingsten ist sie zu Hause ausgezogen und jetzt amüsiert sie sich in den Bars in Sankt Peter. Ihr Mann darf löhnen.«
Stuhr begann zu frösteln. Er versuchte den Wahrheitsgehalt einzuschätzen, aber die Verkäuferin wirkte glaubhaft. Das schien genau das richtige Buch für Frauenversteher zu sein. »Ich nehme es.«
»Einpacken, als Geschenk?«, fragte die Verkäuferin fast automatisch nach, bevor sie sich auf den Weg zur Kasse machte.
»Ja, ja, als Geschenk, natürlich«, stotterte Stuhr erleichtert und zahlte. Er bedankte sich für die gute Beratung und verließ freundlich grüßend den Laden.
Auf dem Vorplatz zur Seebrücke steuerte er den Papierkorb an, der am weitesten vom nächsten Badegast entfernt stand. Er musste das Geschenkband mit ein wenig Gewalt vom Buch ziehen. Unbeobachtet entsorgte er das Umschlagpapier und verbarg das Buch in seiner Sonntagszeitung.
Dann pilgerte er, wie immer bei schönem Wetter, über die neue Seebrücke zu den Pfahlbauten. Die Zeitung mit dem Buch hielt er fest unter dem linken Ellenbogen eingeklemmt, damit es nicht entdeckt werden konnte. Er spähte in die Taschen der anderen Strandgäste und entdeckte so manche Lektüre, aber ein weiteres Buch mit einem hellblauen Cover konnte er nicht ausmachen.
Ein seltsames Gefühl von Einsamkeit überkam ihn, wie er über die Seebrücke schlenderte, denn hier hatte er Jenny kennengelernt. Wie es ihr wohl ging? Wer weiß, in welchen Armen sie sich jetzt herumtrieb?
Oder trauerte sie um ihn? Zumindest ein wenig?
Stuhr schüttelte die trüben Gedanken ab. Bevor er den Sand betrat, zog er die Schuhe aus. Tiefe Radspuren unweit der Arche Noah ließen darauf schließen, dass Schneiders verunglücktes Flugzeug abtransportiert worden sein musste.
Nein, Schneider oder Verena, denen musste er nicht begegnen. Deswegen trieb es Stuhr heute zur Windsurfstation an der Badestelle Ording. Dieser Bau wurde zwar nur von mannshohen Stelzen getragen, aber er verfügte über eine große Terrasse, die einen prächtigen Ausblick auf das Strandleben vor der freien Nordsee gewährte.
Stuhr hatte sich auf den Holzplanken vor dem Windsurfshop einen der in Pastelltönen gestrichenen herumstehenden Barhocker geschnappt und ihn in die schattige Bootshalle gestellt. Er liebte es, aus dieser erhöhten abgedunkelten Position das Strandtreiben zu verfolgen. Zum Zeichen der Besitzergreifung legte er die Zeitung mit dem darin verborgenen Buch auf den Hocker und begab sich zur Bar im Surfshop, um einen Milchkaffee zu ordern.
Der wurde ungewöhnlich schnell vor ihm auf dem Tresen platziert. »Der geht auf unser Haus. Mehr Werbung für SPO geht ja kaum. Welcome und Cheers.«
Verdutzt nahm Stuhr den Milchkaffee entgegen. SPO war die trendige Abkürzung für St. Peter-Ording. Während er sich bemühte, vorsichtig das Heißgetränk