Fahlmann. Christopher Ecker

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Fahlmann - Christopher Ecker страница 33

Fahlmann - Christopher Ecker

Скачать книгу

und die ich Heimat nennen könnte. Heimat – sofort fällt mir mein Lesesessel ein: Nacht für Nacht erwartete er mich inmitten eines Lichtkreises, den die betagte Stehlampe mit dem großmütterlichen Schirm auf den Schlafzimmerteppich warf, sattgelbe Insel, auf dir treibe ich davon, ein Buch in Händen, die Tapeten verblassen, die Zeilen verschwimmen, Buchstaben verdichten sich zu Bildern, Raumschiffe, Serienmörder, und lediglich das Umblättern lässt die Wirklichkeit in Form einer schlafenden Schönen aufflackern, deren nackte Beine unter der Bettdecke hervorkommen, ovale Schattenteiche in den Kniekehlen. Susannes Haar ein auf dem Kissen liegender Fächer, neben dem Bett zerknüllte Söckchen, nahe der Tür ein abgestürzter BH mit verdrehten Schwingen – rasch blättere ich um und gleite kaum mehr Leib zwischen den Seiten davon.

      Selbstverständlich fühlte ich mich auch in der Küche wohl, eine Tasse auf der Fensterbank, den Notizblock daneben, dieses Halbleben zwischen Schlaf und Arbeit am Fenster, dieses träge Fischen nach Erinnerungen, dieses manische Umkreisen der eigenen Identität. Montags und mittwochs ging es danach zum Sargschleppen, manchmal musste ich auch zur Uni, aber am angenehmsten waren, ehrlich gesagt, die Tage, an denen ich mich nach der dritten oder vierten Tasse nicht zum Schreiben durchringen konnte und mich wieder ins ausgebombte Bett legte. Lesesessel, Küchenfenster, Bett, eigentlich habe ich mich im ganzen Haus wohlgefühlt – sogar manchmal am Schreibtisch auf dem Dachboden, obwohl ich es dort mit einer vorwurfsvoll glotzenden, störrischen Schreibmaschine zu tun hatte, der es immer wieder gelang, die flüssigsten Gedanken in holzig daher klappernde Sätze voller Anachronismen und schamloser Rechtschreibfehler zu verwandeln. Ob ich mich in dem Haus so wohlfühlte, weil ich darin meine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Ich stieg die Treppe hoch, und das vertraute Knarren einer Stufe verwandelte mich in einen Siebenjährigen; nachts schloss ich behutsam die Haustür auf, ein Jugendlicher, der sich bemüht, leise zu sein, damit die Eltern nicht merken, wie betrunken er ist; alle Gegenstände sprachen zu mir; im Herzen des Hauses wartete mein ehemaliges Kinderzimmer; und in den Aschenbechern auf dem Dachboden spukte der Geist meines Vaters. Für Susanne wären derartige Überlegungen Wasser auf die Mühlen ihrer Lieblingsthese: Du lebst zu viel in der Vergangenheit etc. «Und was ist daran schlecht?», hatte ich sie einmal gefragt. «Schlecht?» Sie überlegte. «Du lebst nicht in der Gegenwart.» – «Lebst nicht in der Gegenwart», äffte ich sie nach. «Was für ein Unsinn! Natürlich lebe ich in der Gegenwart. So wie du und Jens und Was-weiß-ich-wer-noch! Ich denk halt viel über das Vergangene nach. Daran ist nichts Verwerfliches. Das ist normal! Manche machen es sich leicht im Leben, andere etwas schwerer.»

      Diese Plattheit in den Ohren erscheine ich auf der Straße vor meinem Elternhaus. Den Nachbarn ist es ein Dorn im Auge. Ich kenne jeden Riss in der Fassade, das fleckige Rot der Ziegeln, die lecke Dachrinne, unter der Jahr für Jahr die Mauersegler nisten. Die Straße, die ich nun in Gedanken westwärts gehe, führt schnurstracks in die Innenstadt. Gegenüber der Metzgerei Kundel steht eine Tankstelle aus den fünfziger Jahren, deren futuristische Mütze, ein steil emporschwingendes Stück Beton, sich gut auf dem Titelbild eines SF-Groschenhefts gemacht hätte. Der Tankwart grüßt, ich grüße zurück und komme wenige Minuten später an der Bäckerei Gallinger vorbei, Jasmin steht mit bloßen sonnengebräunten Armen hinter der Theke, wir brauchen ja nicht über Literatur zu reden, Kleines, deine Wimpern, die langen, deiner Augen dunkele Wasser, sie sieht mich nicht, ich beschleunige, renne fast. Hinter der nächsten Kreuzung rotten sich etliche Geschäfte zusammen, Obst und Gemüse Kleibon für Susanne, Getränkeboutique Nobbinger für Heinz, der weiße Klotz des Zebra-Markts für uns alle. Kauft man hier ein, sagt man: «Ich gehe ins Dorf.» Läuft man jedoch weiter in westliche Richtung, wie ich es jetzt in Gedanken tue, überschreitet man bald die unsichtbare Grenze, die «das Dorf» von «der Stadt» trennt. Sofort werden die Häuser mondäner, höher, rücken enger zusammen – in den überseeischen Mustern einer bedrohlichen Fremde. Ich muss umkehren! Hier gefällt es mir nicht. Also gehe ich zurück, biege nach etwa einem Kilometer in eine Seitenstraße, Staubwolken hängen über dem Gelände einer Baustoffhandlung, das Kreischen von Kreissägen kommt vom Schrottplatz, Brachland, dann wieder Häuser und endlich stehe ich, ein Pilger, dessen Reise ein jähes und beglückendes Ende nimmt, vor Mollingers Eck.

      Ich entsinne mich mit Wehmut, wie Heinz mich an meinem fünfzehnten Geburtstag in seine Stammkneipe eingeführt hatte, die damals noch reichlich prosaisch Das Eck hieß. «Wer Haare an der Knolle hat», sagte er, als er mich seinen Saufkumpanen vorstellte, «darf auch einen heben!» Vater war nicht sonderlich begeistert, dass ich meine Samstagabende von nun an in einer Kneipe verbrachte, aber was wollte er tun, hatte ich doch in Onkel Jörg einen eifrigen Fürsprecher. Und so begann die Zeit des Taumelns, des In-den-Rinnstein-Kotzens, ich trinke mein erstes Bier auf ex, das Licht bricht sich in den Waben vorüberziehender Literhumpen, alles dreht sich, spielt Karussell, wie ein Möbiusband verbiegt sich der Heimweg ins Endlose, und mit dem Klappern des Frühstücksgeschirrs steigen befremdliche Bilder aus dem betäubten Kopfkissen. Dann kam die Zeit der Angst: Das Eck wechselt den Besitzer! Doch Mollis liebenswürdige Regentschaft übertraf alle Erwartungen. Seitdem sah man Heinz jeden Abend mit Nobbinger und Bäuchel am Tresen; er füllte die Aschenbecher, bestellte ein Bier nach dem anderen und kam jedes Mal, wenn ich mich mit Achim am europäischen Tisch besoff, auf ein Bierchen zu Besuch, ohne sich anmerken zu lassen, dass er meinen Freund nicht ausstehen konnte. «Nimm schon!», sagte er und stocherte mit der Zigarettenschachtel vor Achims Brust herum, erzählte einen Witz, zwei Witze, drei Witze, dann kehrte er zum Tresen zurück, von wo man ihn bisweilen eine Sauerei brüllen oder hemmungslos rülpsen hörte. Mal beneidete ich ihn um diese Unkompliziertheit, mal bekümmerte mich die gleichförmige Melodie seines Lebens, gestört durch den Missklang einer verborgenen Familie im Hintergrund. Für mich hatte Heinz immer zu unserer Familie gehört. Er aß mittags bei Onkel Jörg (Chilibohnen waren ihre Spezialität), und schon als Kind hatte es mich in Erstaunen versetzt, dass Heinz nicht Fahlmann hieß. Von ihm bekam ich die tollsten Geburtstagsgeschenke (Messer, Luftpistole, Wehrmachtshelm); als mich die Schachtsträßler auf dem Kieker hatten, holte er mich einen ganzen Monat lang mit der Vespa von der Schule ab; spucks aus, Junge, wie viel Dollar fehlen dir noch zu deinem Moped? Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Heinz vermisse, und werde das ungute Gefühl nicht los, ihm meine Zuneigung zu wenig gezeigt zu haben. Aber damals lebte ich hinter Glas.

      Widerwärtig alltägliche Probleme wie ein zur dämonischen Schreckgestalt aufgeblähter Marsitzky verstellten mir den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge. Meine Freunde wussten nichts davon. Sie durften nie von meinen Schwierigkeiten mit Marsitzky erfahren. Winkler, weil es ihn nichts anging, und mit Achim redete ich hauptsächlich über Sex (allgemein), Biertrinken (speziell) und das lästige Studium – aber meistens machten wir Quatsch. Mit professionellem Geschick vertrieben wir unliebsame Tischgenossen, irgendwelche Trottel, die Achim von seiner Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr kannte, und die ihn «Flacharsch» nannten. Ein Dummes Gesicht setzt sich zu uns an den Tisch, Flacharsch und so weiter, hahaha, Herrenwitze, und plötzlich fragt Achim mich in beiläufigem Tonfall: «Was haben wir denn damals eigentlich gekriegt, als wir das Mittelmeer ausgehoben haben.» – «Fünfhundertvierundvierzig Mark die Stunde», sage ich. «?», macht das Dumme Gesicht. «Der Sack, der die Alpen aufgeschüttet hat, hat sechshundert Mark bekommen», fahre ich mit Bedacht fort und erkläre unserem neuen Freund herablassend: «Höhenzulage.» – «Die brauchen uns bald wieder», sagt Achim. «Die Verschalung ist undicht.» – «Das wird teuer», seufze ich. «Alles abpumpen, die Muscheln abkratzen, der Sand muss rundumerneuert werden, Unterbodenwäsche, dann Silikon in die Fugen – wird ein scheißteurer Spaß!» In dieser Art machten wir weiter, bis dem Dummen Gesicht die Sicherungen im Kopf zu qualmen begannen, und es genervt das Weite suchte. Besonders peinigend empfanden die Typen von der Freiwilligen Feuerwehr unsere offenkundige Unkenntnis in handwerklichen Universalien. Der Achter Schlüssel, die Zwölfer Nuss, die mächtige Hilti waren die schwarzen Trümpfe, die, falsch ausgespielt, die Hände des hartgesottensten Handwerkers zum Zittern brachten. Nur gegen Onkel Jörg gab es keine Allzweckwaffe.

       Hönk, hönk, der Transit fährt vor, Onkel Jörg betritt Mollingers Eck, begrüßt die Anwesenden mit einer kreisenden Handbewegung, die einen Heiligenschein in den Zigarettenqualm über seinem Kopf zeichnet, zischt mit Heinz ein schnelles Bier am Tresen, tritt dann an unseren Tisch, mimt den Zerknirschten und versucht mit einigen Fragen, den

Скачать книгу