Fahlmann. Christopher Ecker

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Fahlmann - Christopher Ecker

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«Die Lesung war ganz in Ordnung», gab ich klein bei. «Bis auf die Gedichte. Bis auf die Leute. Bis auf die Lesung.» Mein Lachen klang gequält. «Großvater war auch da. Ich muss ihn nachher anrufen. Irgendwie hab ich ihn im Getümmel aus den Augen verloren.» Jens war im Badezimmer, kristallklares Blassblau, das Licht der Küchenlampe fiel in Susannes Augen, brachte die Iris zum Leuchten. Fast andächtig bewunderte ich die Strahlenkränze dunkler Linien, die an die dichte Speichenharfe eines Fahrrads erinnerten. «Du hast schöne Augen», sagte ich, strich ihr die Haare aus der Stirn, Susanne umarmte mich, das kam für uns beide unerwartet, wir hielten uns umschlungen, ich spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und vergrub das Gesicht in frisch gewaschenem Haar. «Wie hast du geschlafen?», flüsterte Susanne neben meinem Ohr. «Geht so», log ich. – «Ich hab dich gar nicht ins Bett kommen gehört.» – «Es war spät.» – «Schreibst du heute?» – «Ich werds versuchen», sagte ich, bezweifelte aber, dass es nach dieser Nacht klappen würde. Die Vorstellung, im Kopf fremder Menschen ein dubioses Schattendasein zu führen, hatte mich bis vier Uhr früh wachgehalten, dann erst war der Schlaf gekommen: in kurzen, flüchtigen Stippvisiten. Immer wieder erwachte ich, sah auf die Uhr, geisterte durch die Wohnung, Susanne schlief, der Brief an Jasmin lag gut versteckt unter dem Fußabstreifer, Jens schlief, und selbst Om hatte sich am Fußende des Kinderbetts zu einer schwarzen Pelzkugel zusammengerollt, deren Ohren unwillig zuckten, wenn ich neidisch ins Zimmer spähte. Und nun war ich endlich alleine. Den Brief hatte ich vorm Frühstück eingeworfen. Morgen bekäme Jasmin Post von einem anonymen Verehrer.

      Susannes Bademantel hing über dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, stützte sich mit schlaffen Ärmeln auf den Fliesen ab; die Spüle bog sich unter schmutzigem Geschirr; ich bückte mich nach der Zeitung, der beim Sturz auf den Fußboden die Eingeweide in Form bunter Hochglanzprospekte aus dem Bauch gequollen waren. Rote Marmeladensiegel übersäten die Tischplatte. Jens hatte den Rest seines Brötchens zu kleinen Stückchen zerpflückt, damit keinem auffiel, dass er kaum etwas gefrühstückt hatte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Vater die butter- und marmeladeverschmierten Teile auf dem Teller zu einer fast kompletten Brötchenhälfte zusammensetzen würde! Wenigstens hat er seinen Kakao ausgetrunken. Die Mohrenkopfbrötchen seines geschäftstüchtigen Hausmeisters verfluchend, stellte ich mich wieder ans Küchenfenster, ich, der Verfasser eines von der Kritik kübelweise mit unverdientem Lob überschütteten Gedichtbands, ausgebrannt, müde, ohne Energie zum Schreiben anspruchsvoller Prosa. Hoffentlich dachten diese ernsten Menschen, die mir gestern so andächtig gelauscht hatten, nicht mehr an mich! Sie haben mich schon vergessen, sagte ich mir, ich verblasse in ihren Gedanken wie das Gegenteil einer Polaroid-Fotografie. Dennoch fühlte ich mich, wie man sich wahrscheinlich fühlt, wenn man eines Tages feststellt, seit seiner Geburt ein Bewohner Spitzbergens zu sein. Ich steckte eine Zigarette an, die nicht schmeckte, und blätterte hinten im Notizbuch, wo ich Zitate aufgeschrieben hatte wie: Und dann will es mir scheinen, als ob man uns doch zu viel zugemutet hätte, als ob wir uns niemals so recht von Herzen mehr freuen könnten. Diese Sentenz stammt von einem deutschen Literaten und Helmsammler, dessen Namen an der Uni zu nennen akademischem Selbstmord gleichgekommen wäre. Das zweite Fundstück, das ebenfalls zu diesem Tag zu gehören schien, hatte Pessoa seinem traurigen Lissabonner Hilfsbuchhalter Bernardo Soares in den Mund gelegt: Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich bewegte mich in Gedanken um diese Sätze herum, zu viel zugemutet, aus der Sonne gehen, Hügel, Inseln, ich füllte die Zwischenräume mit Sand, bis die Gipfel der beiden Sentenzen (Worte wie Herzen oder Sonne) verschwunden waren und sich die Wüste einer existentiellen Traurigkeit in die Küche hinein erstreckte. Existentielle Traurigkeit. Das steht wirklich im Notizbuch. Ohne Anführungszeichen, wie so oft ohne Quellenangabe, vielleicht sogar von mir, beziehungsweise von einer früheren Version meines Ichs, einem flüchtigen Bekannten, den ich bereits vor langer Zeit aus den Augen verloren hatte.

      Schon damals glitschte mein Charakter aus den zupackenden Händen wie ein Aal: Einerseits beklagte ich die Ereignislosigkeit meines Lebens, andererseits wünschte ich mir, ohne mir dessen bewusst zu sein, nichts sehnlicher als eben diese Ereignislosigkeit. 1. Es ist, als schöbe sich eine Glasplatte zwischen mein Ich und mein Ich. 2. Ich bin derjenige, auf dessen Seite sich der Beobachter (ich) zufällig befindet. 3. Mein Ich pendelt zwischen gegensätzlichen Polen hin und her, und doch bin ich nicht das Äquatorische, das dazwischen liegt, sondern zum Zeitpunkt A bin ich X (A), und zum Zeitpunkt B bin ich X (B). 4. Es ist gefährlich, zu lange über sich selbst nachzudenken, Ausrufezeichen, Tinte trockenpusten, Notizbuch zu. Das Ich ist eine Falle in einem selbst.

      Meinen Freunden verschwieg ich solche Überlegungen (gefährlich in ihrem weinerlichen Pathos und ihrer Banalität). Wir fanden es ungehörig, das eigene Seelenleben voreinander umzustülpen wie einen Gummihandschuh. Wie hätten sie wohl auf solche Offenbarungen reagiert? Achim hätte gelacht, und Winkler hätte meine Bekenntnisse ungerührt zur Kenntnis genommen und mir dann übergangslos von seinem neuesten literarischen Projekt berichtet: «Es geht um belebtes Geschirr …» Oder er hätte Übergescheites zum «Topos des Doppelgängers» abgelassen, um dann die Handlung eines indizierten Splatterfilms zu referieren, wo man mit bloßer Gedankenkraft Gehirne zum Platzen bringt und mit herausbaumelnden Augäpfeln, aufgeschlitztem Unterleib und behängt mit schillernden Eingeweidegirlanden ein hysterisch kreischendes Blondinchen in der Badewanne heimsucht, um sie unter heftigen Blutstürzen mit safrangelbem Eiterstrahl zu schwängern.

      In der Zeit vor meiner erzwungenen Abreise nach Paris traf ich mich hauptsächlich mit Achim und Winkler. Winkler kannte ich erst seit zwei Jahren, Achim seit frühester Kindheit. Er hatte zwar nur drei Straßen weiter gewohnt, aber unsere Freundschaft begann erst, als wir im Grundkurs Physik nebeneinander saßen und gleichwenig von den Formeln verstanden, mit denen Dr. Bostel die Tafel füllte; nichts vermag Menschen enger aneinanderzuschweißen als Nichtwissen. Außerdem gaben wir uns beide gerne die Kanne, Achim vertrug angeblich «vier Liter aufwärts», und eines Abends erlaubte ich ihm, mich in Mollingers Eck zu begleiten, in meine nahe Stammkneipe, die einer bushaltestellenlosen Seitenstraße voller Eisenwarenhandlungen und chemischer Schnellwäschereien das Recht auf Existenz verlieh. Mit diesem Besuch begann ein neues Kapitel meines Lebens. Achim hatte nicht geschwindelt, er vertrug tatsächlich so viel wie ich, trank nicht zu schnell, nicht zu langsam, und er quasselte keinen Schwachsinn, wenn man seine Ruhe haben und nur dumm herumkucken wollte. Von nun an trafen wir uns jeden zweiten Abend in Mollingers Eck, was die langweiligen Wochen unseres frauenlosen Kosmos angenehm rhythmisierte. An den übrigen Abenden vermieden wir es gewissenhaft, Alkohol zu trinken, und so verging die Schulzeit. Dann wohnten wir zusammen und tranken «an den Abenden dazwischen» sauren Weißwein von der Tankstelle, einen Wein, den vernünftige Menschen nicht mal zum Kochen verwendet hätten. Bei einem dieser Abende in unserer WG-Küche, wo zur Freude aller Besucher ein dichter Schimmelbart unter der Spüle wucherte, hatte Achim lallend verkündet, sein Biologiestudium zu schmeißen, um mir ab sofort «im Simpelstudiengang Germanistik» Gesellschaft zu leisten. Sind die Rahmenbedingungen unserer Freundschaft überhaupt wichtig? Ich denke nicht. Wichtig sind allein die großartigen Abende in Mollingers Eck! In spätpubertärer Begeisterung für Chandler hatten wir Molli überredet, Cocktails zu mixen, und nach anfänglichen Protesten wie: «Nur Schwule und Flittchen trinken so ein Klebzeugs!» wurde es eine Selbstverständlichkeit, einen Gimlet oder Whiskey Sour bestellen zu können, ohne schief angesehen zu werden: eine willkommene Abwechslung zwischen den Bieren!

      Molli zapfte ein wunderbares, eiskaltes Bier, das Glas beschlug in der Hand, perfekte Schaumblume sowieso. Würde mir hier jemand ein derart gezapftes Bier servieren, ich bräche in Tränen aus. Der Name «Molli» ist übrigens irreführend. Unwillkürlich sieht man einen dicken, schlampigen, vermutlich unrasierten Mann in verdrecktem Rollkragenpulli und abgewetzten Cordhosen vor sich, aber bei dem wirklichen Molli handelte es sich um eine dünne, alterslose Erscheinung mit Stirnglatze und Nickelbrille, die man eher in einem Bioladen vermutet hätte als hinter dem Tresen einer Vorstadtkneipe mit Kegelbahn. Ich erinnere mich noch gut, wie liebevoll er die Glasränder mit frischgepresstem Limettensaft befeuchtete, bevor er sie in die weit aufgerissene Zuckerpackung tauchte. Das Rasseln der Eiswürfel im Shaker war ein vertrautes Geräusch in Mollingers Eck, und zwischen den Bieren genehmigten wir uns immer mal wieder einen Cocktail und behielten diese liebenswerte Tradition

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