Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
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»Guten Abend, Monika«, begrüßte er die junge Frau, die er nach Bedarf zu Nachtdiensten holen konnte. Sie hatte vor der Geburt ihres Sohnes als Krankenschwester in der Freiburger Uniklinik gearbeitet und verdiente sich gern ein bisschen Geld dazu, während ihr Mann bei ihrem Kind war. »Wie geht’s Frau Wittmer?«
»Ich war vor ein paar Minuten noch bei ihr. Nachdem Thomas gegangen ist«, fügte sie mit geheimnisvollem Lächeln hinzu.
Monika Hauser und der Uhrmacher waren Nachbarskinder.
»Ich glaube, in Ruhweiler wird’s bald eine große Hochzeit geben«, fuhr die Nachtschwester fort. »So, wie die aneinanderhängen.«
»Leg dich ruhig hin und schau ein bisschen fern«, bot er ihr an. In dem Anbau gab es auch einen zwar kleinen, aber gemütlich eingerichteten Personalraum. »Falls Frau Wittmer irgendwelche Wünsche hat, wird sie klingeln.«
Monika nickte sichtlich erfreut. »Ich habe mir ein Buch mitgebracht, das ich schon seit Monaten lesen will.« Sie lachte fröhlich. »Zu Hause komme ich nicht dazu. Meine beiden Männer halten mich ganz schön auf Trab.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. »Falls du wieder einmal zu Hause nicht zum Lesen kommst, ruf ruhig an.«
*
Sophie war noch wach, als Matthias ihr Zimmer betrat.
»Ich bin heute später dran als gestern«, entschuldigte er sich.
»Das macht nichts.« Sie lächelte ihn an.
Er sah ihr an, dass sie ihn mochte –, was schon einmal eine gute Voraussetzung für sein Vorhaben war.
»Was machen die Kopfschmerzen?«
»Sie haben sich heute kaum mehr gemeldet.« Ein Strahlen ging über ihre Züge. »Das macht bestimmt auch die gute Luft hier. Ich habe den ganzen Nachmittag draußen gesessen.«
»Hat Schwester Monika Ihre Werte schon kontrolliert?«
»Ja. Puls, Blutdruck, Herz … Alles okay. Wenn die Diagnose nicht wäre, würde ich glauben, ich wäre gesund.«
Matthias Brunner zögerte. Sollte er ihr sagen, dass der Hämoglobintest ihre Diagnose Lügen strafte? Nein, das Risiko, ihr letztendlich unberechtigte Hoffnungen zu machen, wollte er nicht eingehen. Es konnte ja auch sein, dass der Test in seinem kleinen Labor, aus welchem Grund auch immer, ein falsches Resultat ergeben hatte.
Er atmete einmal tief durch und sah seine Patientin eindringlich an.
»Sophie, ich muss Ihnen noch einmal Blut abnehmen. Für ein abschließendes Ergebnis.«
Sie zeigte sich weder erstaunt noch neugierig. Zu seiner Erleichterung nickte sie nur zustimmend. Dann hob sie die Hand und sagte stolz: »Schauen Sie mal, den Ring hat mir Thomas heute Abend geschenkt.«
»Donnerwetter.« Er nickte anerkennend.
Wenn das keine Liebe war!
»Ich habe ihm versprochen, dass ich in den nächsten Tagen eine Biopsie machen lassen werde«, sprach sie weiter. »Ich möchte leben. Zum ersten Mal weiß ich, was Liebe ist. Für dieses Glück werde ich kämpfen. Sie haben recht gehabt, Herr Doktor. Wenn man einen Partner hat, der einen liebt, ist man auch für sein Glück verantwortlich.«
»Darüber freue ich mich, Sophie. Ich werde Ihnen dabei helfen. Es kommt ja auf ein paar Tage nicht an. Ich werde mich erkundigen, an welchen Kollegen ich Sie mit gutem Gewissen überweisen kann.«
Vielleicht ist es auch gar nicht mehr nötig, fügte er stumm hinzu.
*
Draußen hatte sich der schwarze Mantel der Nacht über das Schwarzwaldhaus gelegt. In der Praxis brannte noch Licht. Dr. Brunner saß im Labor vor den Glasröhrchen, die Sophies Blut enthielten. Der Druck in seinem Magen verriet seine Nervosität. Zu welchem Ergebnis würde das Differentialblutbild führen, das er jetzt erstellen wollte?
Sein kleines Labor verfügte nicht über teure Zählgeräte, die ein Blutbild automatisch erstellten, was verlässlich und überdies auch viel schneller ging. Schwester Gertrud und er zählten die Blutkörperchen noch unter dem Mikroskop aus. Das war natürlich sehr viel aufwendiger, aber zur qualitativen Bewertung unerlässlich. Die Zählgeräte in den Großlaboren konnten kranke Zellformen manchmal nicht richtig zuordnen. Dadurch konnten diagnostisch relevante Informationen verloren gehen.
Matthias atmete tief durch, bevor er sich an die Arbeit machte. Von seinem Mikroskop-Platz konnte er hinüber zum Haus sehen. In der Stube brannte Licht. Er wusste, dass dort Ulrike saß und in Gedanken bei ihm und Sophie war. Das war ein gutes Gefühl. Er hatte im Laufe der Zeit Hunderte von Blutbildern erstellt. Nur dieses Mal war es anders. Die rote Flüssigkeit unter dem Mikroskop gehörte einem Menschen, der gerade angefangen hatte zu leben, zu lieben. Was würde sein, wenn sich in dieser Nacht sein Verdacht auf eine Falschdiagnose doch nicht bestätigen würde? Allein die vergangenen Tage waren eine harte Bewährungsprobe für die junge Liebe zwischen Thomas und Sophie gewesen, die sie bestens gemeistert hatten. Aber das Schicksal hatte bekanntlich seine eigenen Pläne mit den Menschen. Niemand konnte es aufhalten.
Er schüttelte energisch den Kopf.
Jetzt war nicht die Zeit für philosophische Gedanken. Er musste sich an die Arbeit machen.
Als es schließlich darum ging, die Arten und Reifungsstadien der weißen und roten Blutkörperchen auszuzählen, beschleunigte sich sein Puls.
»Eins, zwei, drei …«, zählte er halblaut vor sich hin. »Eins, zwei, drei …«
Dann war er mit der Zählung durch. Seine Hände zitterten leicht. Die Zahl der roten Blutkörperchen lag in völlig normalem Bereich, wie Schwester Gertrud schon gestern beim Hämoglobintest festgestellt hatte. Die Zahl der weißen Blutkörperchen ebenfalls. Und Blasten, das wichtigste Anzeichen der lebensbedrohenden Krankheit, hatte er überhaupt nicht gefunden. Dieses Ergebnis belegte eindeutig, dass Sophie – abgesehen von den Unfallfolgen – kerngesund war. Ihre Symptome wie Schwindel oder Erschöpfung mussten eine andere Ursache haben. Wahrscheinlich waren sie die Folge von Überarbeitung, aber darum würde er sich in den nächsten Tagen kümmern.
Matthias lehnte sich zurück. Er spürte ein Kribbeln im Hals.
Seine Patientin würde leben – und wahrscheinlich viel glücklicher als die Jahre zuvor, denn sie hatte nicht nur eine Zukunft zurückbekommen, sondern auch die große Liebe gefunden. Was sein Glücksgefühl trübte war der Gedanke daran, dass es irgendwo dort draußen einen Menschen gab, dem das Schicksal weniger gut gesonnen war als Sophie. Diesen Patienten musste er ausfindig machen, damit ihm geholfen werden konnte. Gleich morgen würde er sich mit dem Labor in Karlsruhe sowie mit Sophies dortigem Arzt in Verbindung setzen. Doch jetzt wollte er erst einmal Sophie Entwarnung geben. Sie schlief zwar schon, aber konnte es einen wichtigeren Grund geben, sie zu wecken, als diese Botschaft?
*
Sophie strömten die Tränen über die Wangen. Sie weinte und lachte in einem.
»Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?«, fragte sie immer wieder, während sie die Hände von Dr. Brunner presste.