Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
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»Ich muss es Thomas sagen. Wie spät ist es?« Mit tränennassen Augen, aber strahlendem Gesicht sah sie ihn an.
»Kurz vor Mitternacht«, antwortete er.
»Wenn er möchte, darf er dann noch sie …?«
Er wusste, was sie meinte.
»Er darf«, antwortete er mit verständnisvollem Lächeln.
Konnte er den beiden jungen Menschen das versagen, wonach er sich jetzt auch sehnte? Er konnte kaum erwarten, zu seiner Frau zu gehen, ihr die gute Nachricht mitzuteilen, noch eine Weile mit ihr in der Stube bei einem Glas Wein zu sitzen und diesen ereignisreichen Tag ausklingen zu lassen.
*
Energiegeladen und gut gelaunt marschierte Schwester Gertrud, nachdem sie Nachtschwester Monika verabschiedet hatte, den Flur hinunter zum Kliniktrakt. Das Wohl ihrer sympathischen Patientin lag ihr am Herzen. Deshalb war der Besuch bei Sophie ihre erste Amtshandlung. Ein Klopfen, ein munteres »Wie geht’s uns denn heute« – und dann fielen ihr die Augen aus dem Kopf.
Aus einem der beiden Sessel sprang Thomas Seeger auf. Noch verschlafen rieb er sich die Augen. Als Nächstes nahm Gertrud den Piccolo-Sekt, Zahnputzbecher und einen Pappbecher auf dem Tisch wahr.
Sie schnappte nach Luft. Ihr wogender Busen hob und senkte sich mehrmals schnell hintereinander, bis sie endlich die Sprache wiederfand.
»Was ist das denn hier für ein Gelage?«, fragte sie mit donnernder Stimme. »Wir sind hier in einer Klinik und nicht …«
Sophie und Thomas wechselten einen schuldbewussten Blick.
»Lassen Sie’s gut sein, liebe Gertrud«, hörten dann alle drei die Stimme des Landarztes. »Ich übernehme die volle Verantwortung für dieses Gelage.«
*
Matthias Brunner hatte beim Betreten der Praxis die Sprechstundenhilfe in Richtung Kliniktrakt marschieren sehen.
Er hatte schon so eine Ahnung gehabt.
Gertrud sah ihn fassungslos ansah. »Aber, Herr Doktor …«
»Nur eine Ausnahmesituation, Schwester Gertrud«, beruhigte er sie. »Ich werde gleich alles erklären. Denn da gibt es etwas, was Sie noch nicht wissen.«
Bingo! Gertruds Neugier war geweckt.
Er schmunzelte in sich hinein. Dann sah er Sophie und Thomas an.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, begrüßte er die beiden. »Heute ist der Tag, an dem Sie uns verlassen dürfen.« Er sah Sophie an, die von innen zu leuchten schien. Eine zarte Röte überzog ihr Gesicht. Sie war nicht nur gesund, sie wirkte auch so.
»Herr Doktor …« Thomas trat auf ihn zu. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen …« Ihm versagte die Stimme, er lächelte verlegen und wandte sich dann an die stumme Gertrud: »Wenn Sie hören, was passiert ist, werden Sie nicht mehr böse ein. Ein Wunder …«
Die altgediente Sprechstundenhilfe schüttelte mit unwirscher Miene den Kopf. Der feuchte Glanz in ihren Äuglein verriet jedoch, dass die glückliche, gefühlvolle Stimmung in dem Krankenzimmer auch ihr Herz berührte.
»Nun packt mal«, fuhr der Landarzt fort. »Ich stelle Sophie noch ein Rezept aus. Und ich würde Sie gern in ein paar Tagen wiedersehen«, wandte er sich an die junge Frau. »Wir müssen gegen Ihren Schwindel und Ihre Erschöpfung was tun.«
*
»Fahren wir nicht zu eurem Hof?«, fragte Sophie erstaunt, als Thomas von der Hauptstraße in Richtung Titisee abbog.
»Ich möchte dir etwas zeigen.« Mit geheimnisvoller Miene lächelte er sie von der Seite an.
»Was denn?«
»Lass dich überraschen.«
Ganz entspannt lehnte sie sich zurück, legte die Hand auf sein Knie und genoss die Aussicht – den weiten wolkenlosen Himmel, die Hügelketten, die Täler, in denen kleine Höfe lagen, und die kühlen Waldstücke.
Irgendwann verließen sie die Straße. Thomas fuhr in einen der dunklen Tannengründe hinein. Zu beiden Seiten des Forstweges lagen geschlagene frisch geschälte Stämme, deren harziger Duft ins Wageninnere drang. Still war es hier zu dieser Vormittagsstunde, die Stille des Waldsommers. Wie schön das Leben doch war!
Sophie kam es so vor, als wäre sie ein zweites Mal geboren worden. Nach den Ängsten, die sie durchgemacht hatte, sah sie die Welt jetzt mit anderen Augen. Sie bemerkte auch die Kleinigkeiten, die sie vorher übersehen hatte. Hoffentlich würde Dr. Brunner baldmöglichst den Menschen finden, dessen Diagnose die ihre hatte sein sollen. Sie würde sich um ihn kümmern, würde ihm Lebensmut und die Kraft geben, mit seinem Schicksal umzugehen. Das war sie ihm schuldig.
»Wir sind gleich da«, kündete Thomas in ihre Gedanken hinein an.
»Ich bin so gespannt.« Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wohin du mich bringst.«
Er hielt an, öffnete das Handschuhfach und zog ein Tuch heraus.
»Vertraust du dich mir an?«, fragte er mit ernstem Blick.
»Natürlich.« Sie lachte.
»Auch blind?«
»Ja.«
»Dann werde ich dir jetzt die Augen verbinden. Ich möchte, dass die Überraschung perfekt ist.«
Lächelnd ließ sie es geschehen, und Thomas fuhr weiter.
Sie mussten sich jetzt auf einem holprigen ansteigenden Weg befinden, denn der Wagen ruckelte stark. Welche Überraschung mochte er sich ausgedacht haben? Gab es dort, wo er sie hinbrachte, etwas Besonderes zu sehen? Oder zu kaufen? War es ein Lokal, wo sie zu Mittag essen würden?
»So, gleich sind wir da«, hörte sie den geliebten Mann sagen.
Thomas öffnete die Tür und half ihr auszusteigen.
»Darf ich die Binde jetzt abnehmen?«, fragte sie voller Neugier.
»Einen Augenblick noch.«
Er umfasste ihre Schultern und führte sie ein paar Schritte vor sich her.
»Jetzt ist es so weit«, verkündete er in feierlichem Ton, während er den Knoten des Tuches löste.
Sophie blinzelte ein paar Mal in die Sonnenstrahlen, die wie goldene Lichtbahnen durch die Baumwipfel flossen. Sie verfolgte ihren Weg bis zu dem Holzhaus, auf dessen umlaufender Veranda eine Bank und ein Tisch standen. Der Tisch war gedeckt. Holzbrettchen, Gläser, Brot, Schinken, Käse, Wein. Ihr Blick glitt weiter zu der windschiefen geschnitzten Tür. Über ihr hing ein verwittertes Schild, auf dem in blassroter Farbe geschrieben stand: »Sophienhütte«.
Sie öffnete den Mund. Doch sie