Gusto auf Grado. Andreas Schwarz
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Am Abend verlagerte sich ein Teil des Lebens wieder zurück zum Wasser. Aber nun besuchte man die Badeanstalt nicht des Badens wegen, sondern wegen des dortigen Restaurants. Die Musik spielte für die Kur- und Badegäste auf, es gab Wein, Pilsener-Bier, österreichische Küche und Tanz – und der dunkle Strand links und rechts der Lokalität war vor allem für Burschen und Mädchen die – sagen wir es einmal so: allergrößte Attraktion. Wo sonst konnte man einander so ungestört und so uneingesehen näherkommen als abseits des lukullischen Treibens, am weiten, finsteren Strand? Nur dem Pfarrer des Städtchens, so wird erzählt, stieß das unmoralische Treiben im Gradeser Sand schon länger sauer auf, bis es ihm eines Tages zu viel wurde. Er setzte 1905 den Bau eines Zaunes durch, der bis heute den Strand mit seinen Liegen und den inzwischen hölzernen Kabanen nach Einbruch der Dunkelheit unzugänglich macht. Über viele Jahrzehnte war der Strand in Grado übrigens der einzige abgesperrte Strand in ganz Italien.
Der Strand vor den Ville Bianchi mit den Badezelten und der alten Badeanstalt
Damals sorgte der neue Zaun bei vielen Gradesern und bei Gästen auch für Empörung. Nicht, weil er den nächtlichen Zugang zum Strand unterband, sondern weil er auch das Flanieren oberhalb des Strandes unmöglich machte: Die Promenade war ja noch nicht gebaut. Und für den Zugang zum abgezäunten Bereich wurde plötzlich Eintritt verlangt.
Die Geschichte vom Kaisertürl hat übrigens ein Gradeser Schlitzohr erfunden, das sich angeblich bis heute darüber freut, dass sie so munter weitererzählt wird.
Bis zu den Knien im Wasser stehen, stundenlang – seit jeher Freude vieler Grado-Reisender
3»Für die Haut gibt’s nur die Adria«
Warum Grado gesund ist, selbst wenn man stundenlang bis zu den Knien im Meer steht und plaudert. Und wie aus dem Fischerdorf überhaupt erst ein See- und Kurbad wurde.
Aber geh, woher denn! Der Zaun zum Strand wurde erst im Ersten Weltkrieg gebaut.« Die ältere Dame, die auf der Couch sitzt und in ihrem Kaffee rührt, will die Geschichte mit dem Pfarrer und den unzüchtigen Kurgästen nicht so ganz glauben. Wenn ihr schon der Glaube ans Kaisertürl zerstört worden ist, durch das in Wahrheit kein Kaiser je gegangen ist. Aber dass der Pfarrer den Zaun errichten ließ, damit nur ja keine Burschen und Mädchen am unbeobachteten Strand in Versuchung kämen …! – »Den Zaun haben sie hingestellt, weil kein Treiben am Strand sein durfte«, sagt sie – die Freundin neben ihr kichert –, »nein, du weißt schon, weil keine Bewegung und kein Licht sein durfte im Krieg und kein, na, kein Treiben halt. Wegen der Schiffe draußen, der feindlichen. Also aus kriegerischen Gründen steht der Zaun da.« Punktum, der Pfarrer ist aus Sicht der alten Dame entlastet, was die Abriegelung des Strandes und die Verhinderung allfälliger Sünden betrifft.
Schräg gegenüber der Villa Erica und der kleinen Bar davor liegt die Villa Stella Maris, das Hauptgebäude der fünf Bianchi-Villen. Mitte Juli ist es auch am späten Nachmittag noch heiß, selbst unter dem Sonnenschirm eines Cafés oder einer Bar. Also haben wir uns mit den vier Damen aus Österreich im Lesezimmer der Villa Stella Maris verabredet. Dort, wo die Gäste üblicherweise Platz nehmen, bevor der Speisesaal geöffnet wird, wo man zwischen alten Schiffsmodellen und Büchern nach dem opulenten Mahl noch einen Grappa nimmt, ehe man zur Ruh’ geht. »Der Eingang, wo Sie reingekommen sind, das wissen Sie eh: Der war früher nicht dort. Der war auf der anderen Seite zum Garten hin, die geschwungene Doppeltreppe. Weil dort, wo er jetzt ist, da war nur Wasser – die Lagune«, sagt eine der Damen zur Begrüßung. Auch das duldet keinen Widerspruch. Und schon sind wir mittendrin in den Erinnerungen. Obwohl: An die Lagune vor der Nicht-Tür können sich auch die Damen nicht erinnern.
Das Haupthaus der Ville Bianchi mit dem früheren Haupteingang zum Garten hin. Heute betritt man das Haus auf der Rückrespektive Vorderseite.
Andrea und Christine Fabrizii, Dorothea Kiesling und Gräfin Susanne Hardegg verbringen seit gefühlt einem halben Jahrhundert Jahr für Jahr ein paar Sommerwochen in Grado. In Wahrheit schon länger, seit ihrer Kindheit und Jugend. Und immer wenn sie auf Sommerfrische an die nördliche Adria gereist sind, haben sich ihre Eltern und später sie selbst in den Ville Bianchi einquartiert. Wie kommt oder kam man auf Grado? »Meine Mutter stammt aus Görz«, sagt eine der Fabrizii-Schwestern. Görz, die ehemals Gefürstete Grafschaft, das Zentrum des Friaul, Kronland und österreichisches Küstenland: In der Monarchie war Görz verwaltungstechnisch auch für Grado zuständig. Görz ist zudem zufällig die Heimat des Barons Leonard Bianchi, des Erbauers der Bianchi-Villen, in denen wir sitzen. »Meine Mutter war schon im Jahr der Eröffnung, 1901 oder 1902, hier bei den Bianchi. Schon als Kind. Ich bin seit 1966 da. Immer im Juli, weil da immer dieselben Leut’ da waren.«
Bei Dorothea Kiesling reicht die Grado-Erinnerung bis 1955 zurück. Damals war sie mit ihren Eltern das erste Mal hier. »Da ist man im September gekommen, ist manchmal im Kaschmirmantel draußen gesessen und hat Eis gegessen. Andere waren immer im Juni da. Nur Juli und August war damals zu heiß.« Die vier Freundinnen waren jedenfalls schon zu Zeiten hier, als die Villen zwar auf ihre Art mondän, aber noch kein Vier-Sterne-Hotel waren. »Eine Tante von mir hat immer gesagt, wenn sie hier angekommen ist: ›Also, Susi, jetzt sind wir wieder im Gasthaus zur 15er-Birn‹«, erinnert sich Gräfin Hardegg – eine Anspielung auf das trübe Licht der 15-Watt-Birnen in den Lampenfassungen auf den Zimmern. »Da konnte man nicht einmal lesen. Alles war eine Improvisation, die Möbel, die Matratzen, wo man nicht wusste, ob man nicht doch lieber auf dem Boden liegt, alles sehr antik …«. Dennoch sind sie immer und immer wiedergekommen, um im Garten zu sitzen und bei einer Flasche Wein Bridge zu spielen. Um »am Corso spazieren zu gehen«. Und um tagsüber dem Badevergnügen zu frönen: »Da waren wir am Strand, jede Familie hatte ihre Kabane, das waren vier Pfeiler mit einem Leinentuch rundherum. Und mein Vater sagte: ›Schau, der Holzhausen geht ins Wasser, da geh’ ich auch.‹ Dann gingen die beiden Herren los und haben sich bis zu den Knien im Wasser stehend unterhalten, uns kam vor, stundenlang, bis sie halb erfroren waren.« Ein Bild, das man heute noch aus dem flachen Wasser am Strand der Adria kennt.
Dabei waren nicht Erfrieren oder Erkranken ein Zweck des Aufenthalts an der Adria, sondern Gesunden. »Grado hat immer schon den Ruf gehabt, zur Heilung aller möglicher Wehwehchen und Leiden beizutragen. Die Luft war gesund, vor allem für die Kinder, und die Sandbäder waren gesund«, sagt Gräfin Hardegg. »Eine Cousine von mir war viel hier, auch deswegen, und dann bin auch ich hier gelandet. Ein Arzt hat damals zu mir gesagt: ›Für die Haut gibt’s nur die Adria.‹«
Sonne, Luft, Meer, Gesundheit – dem Streben danach verdankt Grado überhaupt erst den Aufschwung zum Seebad Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst einmal war die Insel, die nach dem Ende der Republik Venedig (1797) und einer kurzen Herrschaft Napoleons ins Habsburgerreich eingegliedert wurde, ein kleines Fischerdorf. Keine vier Hektar groß, hatte Grado nur einen Bruchteil seiner heutigen Fläche, der Rest waren Lagune und Sumpfland.
Aber Grado hatte vor allem etwas: Sand, nahe dem Dorf mit seinen Steinhäusern und winkeligen Gassen ebenso wie auf schier unendlichen Sandinseln entlang der Lagune. Der Sand wurde zum Teil weggetragen und zum Bauen in Triest verwendet. Er lockte jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts Einheimische,