Gusto auf Grado. Andreas Schwarz
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Wie waren die beiden Schwestern? »Die Mitzi war eine große Reiterin. Sie ist dann einmal gestürzt und ein Leben lang gehinkt. Die Tante Lo war fast zwei Meter groß und ist dann buckelig geworden. Viele haben gesagt, sie waren harte Frauen, weil sie so viel durchgestanden haben. Aber sie waren herzensgute Leut’, haben geholfen, wo sie konnten«, weiß die Großnichte aus Erzählungen und aus Eigenem. »Wir Kinder haben natürlich einen großen Respekt vor ihnen gehabt. Obwohl wir die Tante Lo den Alpenfloh und die Tante Mitzi den Butterstizzi, von Butterstriezel, genannt haben.«
Die vier älteren Damen, die wir im vorigen Kapitel im Lesezimmer der Ville Bianchi getroffen haben, haben ein bisschen weniger Respekt: »Die Lo und die Mitzi haben hier alles übernommen und waren sehr tüchtig und sehr sparsam – und vom Typ her die alten Jungfrauen. Sie waren auch nicht besonders hübsch, alle beide, von mondän keine Rede.« Dabei, so erzählt Gräfin Rossetti, habe die Mitzi viele Verehrer gehabt. Nur der Vater habe immer Nein gesagt. Keiner sei ihm gut genug gewesen – wie das damals halt so war. »So blieb die Tante Mitzi einem treu, einem Offizier, in den sie sehr verliebt war …«
Louise Bianchi mit Nichte Leonie vor der Badeanstalt, im Hintergrund die Villen (1910)
Viel durchstehen mussten die beiden Schwestern schon bald nach dem Tod des Vaters und der Übernahme der Villen – die damals, dank dem Boom des Seebades, von Mai bis September ständig ausgebucht waren. 5500 Gäste hatte Grado noch im Jahr 1904 zu verzeichnen, rund 13 500 waren es 1912, mehr als 18 000 im Jahr 1913. Und 1914 zählte Grado allein bis zum Kriegsbeginn Ende Juli bereits 14 200 Gäste. Dann war Schluss mit dem Boom. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, verließen die Gäste, die in den Wochen davor in großer Sorge die sich verdüsternden Nachrichten in den Gazetten verfolgt hatten, Grado fluchtartig. Obwohl Italien bei Ausbruch des Krieges zunächst neutral blieb (weshalb der Kurbetrieb später, wenn auch auf Sparflamme, doch noch weiterging). Italien akzeptierte nämlich die Expansionspläne Österreich- Ungarns auf dem Balkan, forderte als Ausgleich aber die Abtretung der italienischsprachigen Gebiete des südlichen Tirols und einiger Gebiete im Friaul. Erst als Kaiser Franz Joseph kein Entgegenkommen zeigte, trat Italien im Jänner 1915 auf Seiten der Gegner der Donaumonarchie in den Krieg ein – wofür ihm unter anderem das österreichische Küstenland an der oberen Adria in Aussicht gestellt wurde. Das veränderte auch das Leben der Bianchi-Schwestern grundlegend. Louise und Marie wurden Rotkreuzschwestern an der Isonzo-Front. Sie halfen, wo sie helfen konnten, und wurden dafür während des Krieges und danach mit österreichischen Medaillen hochdekoriert. Dabei waren sie mit einem Gedanken immer in Grado: »Von unserem Verbandsplatz in den Julischen Alpen aus konnten wir mit dem Feldstecher nach Grado hinüberblicken und sehen, wenn in der Pension die Fenster offen standen«, hat Louise später einmal erzählt.
Das Seebad wurde im Mai 1915 von Italien besetzt, die Villen wurden requiriert. Als die k. u. k. Armee 1917 kurzzeitig wieder Küstenland-Gebiete zurückeroberte, fuhren auch die Schwestern zwischendurch immer wieder nach Grado, um nach dem Rechten zu sehen – Louise tat das vornehmlich mit dem Rad, von Prosecco im Karst aus, wo sie stationiert war, oder von Görz bis an die Küste, immerhin jeweils rund 50 Kilometer. Auch kaiserlichen Besuch erhielt Grado in dieser stürmischen Zeit: Kaiser Karl und seine Gemahlin Zita statteten dem Seebad im November 1917 eine Visite ab. Dann aber war es bald vorbei mit der österreichischen Zeit in Grado, in den Friedensverhandlungen von St. Germain 1919 wurde das Küstenland endgültig Italien zugesprochen.
Vorbei war es mit den Österreichern aber nur in politischer Hinsicht. Denn sie kamen wieder, und jenen, die in Grado Besitz hatten, wurde dieser nach und nach zurückerstattet. Schon zu Beginn der 1920er-Jahre kehrten auch die Touristen nach Grado zurück: 2500 waren es im Jahr 1921, schon 5000 im Jahr darauf. Auch Louise und Marie Bianchi kamen wieder. Das Familienschloss in Rubbia war im Krieg zerstört worden, die beiden Schwestern hatten ihr Zuhause verloren. Nun wurde das große Eckzimmer im ersten Stock der Villa Stella Maris mit Blick zum Meer ihr endgültiges Zuhause. Nicht mehr, wie vor dem Krieg, nur in der Saison von Mai bis September, sondern das ganze Jahr über. Fast zehn Jahre nach dem Tod des Vaters durften die Baroninnen erleben, wie sich Europa nach dem Jahrhundert-Krieg wieder aufrichtete und wie Grado, wenn auch unter anderer Nationalität, wiedererwachte. Damit zogen auch die Ville Bianchi wieder Gäste an, zumeist Stammkunden aus den Jahren vor dem Krieg. »Viele sind wiedergekommen, die vorher auch schon Gäste waren, vor allem aus Österreich und Bayern«, weiß Frau Rossetti aus den Aufzeichnungen.
In den Villen musste viel renoviert werden. Sie hatten durch Einquartierungen während des Krieges ordentlich Schaden genommen. Möbel waren »verschwunden« und mussten wieder zusammengesucht werden. Manchmal gelang das auch, weil noch der Eigentumszettel der Ville Bianchi darauf klebte und die neuen »Besitzer« die Beutestücke wieder herausrückten. Außerdem erhielt Louise nebst der Lizenz für die Fremdenbeherbergung 1922 auch jene für den Pensions- und Restaurationsbetrieb. Sprich: Die Ville Bianchi wurden in eine Pension mit Küche umgewandelt. Die Köchin hatten die Schwestern praktischerweise gleich aus dem Schloss Rubbia mitgebracht. Es gab fortan Frühstück, Mittag- und Abendessen. Marie und Louise Bianchi, die, stets in Schwarz gekleidet, schnell wieder zum Stadtbild Grados gehörten, die eine leicht hinkend, die andere groß und bucklig, teilten sich die Hoteliersaufgaben. »Die Tante Mitzi, die auch in Oxford studiert hatte, leitete die finanziellen Dinge. Die Louise war mehr für das Praktische zuständig. Sie hat auch in der Versammlung der Gradeser Hoteliers das Wort geführt«, sagt Frau Rossetti. Zu Emma Auchentaller, der Gründerin des Hotels Fortino, hatten die Schwestern zu der Zeit zwangsläufig einen engen Kontakt: »Die Frau vom Josef Maria Auchentaller hat ja in Grado eine Wäscherei aufgemacht für all die Wäsche, die in so einem Hotelbetrieb anfällt. Da haben natürlich auch die Tanten davon profitiert.«
Die zweite Blütezeit Grados und seiner Villen sollte 1936 einen Höhepunkt erreichen, als die Lagunenstraße von Belvedere auf die Insel und die Drehbrücke eröffnet wurden. Mit einem Schlag war die mühsame Anreise der vergangenen Jahrzehnte mit Eisenbahn und Boot Geschichte. Die Blütezeit war drei Jahre später mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aber auch schon wieder vorbei. Im Krieg wurden die Villen neuerlich vom Militär requiriert, zunächst von den Italienern. Es folgte die deutsche Wehrmacht. Als Ende Juni 1944 die ersten Bomben auf Grado fielen, wurden die beiden Villen Adria und Marina getroffen und schwer beschädigt. Nach dem Abzug der Deutschen kamen die Engländer in die Villen und schließlich etwa 70 Flüchtlinge aus dem von Jugoslawien besetzten Istrien.
Aber auch aus dieser tragischen Zeit erstand das Seebad Grado wieder – und die Villen mit ihm. »Die Tante Louise ist Italienerin geworden, sonst hätte sie die Lizenz für die Villen nicht bekommen«, berichtet Frau Rossetti. Die Großtanten machten sich erneut auf den Weg, Möbel, die mit den verschiedenen Villenbesatzern »Füße bekommen« hatten, und Bettwäsche zu suchen – und das meiste wiederzufinden. Nur wenn die Wäsche mit dem Villen-Monogramm vor irgendeinem Gradeser Haus hing, wollten sich Louise und Mitzi nicht mit den Gradesern anlegen.
Und: »Nach dem Krieg kam mein Vater Karl aus Innsbruck herunter«, erzählt Marie Therese di Rossetti. »Mein Großvater hatte ihm gesagt: ›Du musst den Tanten helfen, das wird einmal dir gehören.‹ 1948 kamen wir hierher, mein Papa, meine Schwester und ich. Ein Jahr haben wir zunächst ganz hier gelebt, ich war gerade einmal zwei. Und so haben Alpenfloh und Butterstizzi und mein Vater die Ville Bianchi wiederaufgebaut.«
Das ist der Zeitpunkt, an dem ein weiterer Bianchi-Nachfahre vor den Vorhang muss: Federico Bianchi, genannt »Fri«, Bruder der Marie Therese Rossetti und 1949 in Grado zur Welt gekommen. »Das war ein großes Hallihallo«, erzählt der Baron von seiner Geburt, als könnte er sich daran erinnern. Deren Umstände werden nämlich bis heute weitererzählt. »Mein