Gusto auf Grado. Andreas Schwarz
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Die Neue Freie Presse schränkte ihre Euphorie aber sogleich ein wenig ein: »Freilich darf man an den erst zum Leben erwachenden Badeort an der Adria keine unbescheidenen Ansprüche machen. Zwar gleicht die großartige Bade-Anstalt dieses geradezu einzigen Dünenstrandes genau jener berühmten des Venetianer Lidos; zwar sind die zu miethenden Zimmer hübsch, reinlich und billig; auch ist die Küche der verschiedenen Gasthöfe und Restaurationen … ganz gut. Doch Vergnügungen gibt es, mit Ausnahme der Concerte im Freien auf der Piazza Stefania und jener im sogenannten Kursalon des ›Hotel Spiagga‹, keine. Dafür kann man gehen und kommen wie man will, dafür genießt man die schönste, ungestörteste Freiheit. Schade, daß die Vorzüge der Gradeser Seebäder nicht in weiteren Kreisen bekannt sind. Schade, daß sich noch kein vermögender, unternehmerischer Geist gefunden, der, in richtiger Erkennung ihrer Heilkraft, diesen Badeort auf jene Höh’ brächte, die ihm gebührt, und die er mit der Zeit gewiß erreichen wird.«
Und dann sprach das »Fürwort« noch eine verbreitete Sorge an, die so manchen Erholungsuchenden davon abhielt, nach Grado aufzubrechen: »Vor allem sollte die irrige Vorstellung zerstört werden, dass in Grado allenthalben skrophulöse Kinder herumlaufen und das Mitleid der Gäste wachrufen. Nein, diese Klippe wardt … wohlweislich vermieden, indem man das neue Bade-Etablissement weit entfernt von dem Krankenhause errichten ließ. Auch sind Bade- und Spielplatz der armen Kinder ganz abgeschlossen vom übrigen Theile der Insel, so daß man die kleinen Patienten gar nicht zu Gesichte bekommt, außer man besucht das sehr interessante Hospiz, in dem die Kleinen trotz ihres Leidens ein beneidenswertes Dasein führen.«
Die unternehmerischen Geister, die Grado »auf jene Höh’« brachten, die ihm gebührt, sollten erst einige Jahre später kommen: nach der Jahrhundertwende, als sich die Fläche von Grado durch Landgewinnung langsam zu vergrößern begann und die ersten mondänen Villen errichtet wurden. Sie verliehen dem Seebad einen ganz neuen Glanz, und erst sie machten Grado endgültig zum Anziehungspunkt für Gäste aus der Monarchie.
Aber nicht alle Gradeser hatten Freude mit dem beginnenden Aufschwung. Denn der bedeutete zwar Einnahmen, von denen die alteingesessenen Fischer und andere Bewohner des Dorfes aber nicht allzu viel hatten. Und der Zustrom der Kurbad-Gäste hatte für die Einheimischen einen erheblichen Nachteil: neue Steuern. Schuldenmachen war den Stadtverwaltungen in der Monarchie streng verboten – also erfanden sie, wenn Investitionen anstanden, zusätzliche Steuern. In Grado waren das vor allem eine Abgabe auf Wein, mit der Bäume, Straßen, Promenaden oder Blumenbeete finanziert werden sollten. Diese Bürde bekamen natürlich die Gradeser zu spüren.
Zum Glück gab es aber noch den Kaiser. Der hatte es zwar nie bis nach Grado geschafft, und er sollte es entgegen der Türl-Legende auch bis zu seinem Lebensende nicht tun. Aber Franz Joseph hatte neben der Finanzierung des Hospizes auch schon die eine oder andere Zuwendung für Grado aus der Hofschatulle und aus der eigenen Kasse springen lassen. Etwa wenn einmal der Fischfang komplett einbrach wie im Jahr 1871 und die Gradeser Fischer einen verzweifelten Brief an den Kaiser schrieben – da griff Franz Joseph schon einmal großzügig in seine Tasche. Als 1901 wieder einmal ein Besuch des Kaisers im Zentrum des österreichischen Küstenlandes in Görz avisiert war, machte sich also eine Abordnung der Insel hoffnungsfroh auf den Weg – das »Nizza Österreichs«, wie Görz damals genannt wurde, lag keine 50 Kilometer entfernt. Ziel des Ausflugs: Seine Majestät um Geld für den Bau eines schiffbaren Kanals von Grado durch die Lagune zum Festland zu bitten. Denn die Anreise zum Kur- und Seebad auf der Insel am Rande der Sümpfe und Lagunen vor Aquileia war mehr als nur aufwendig.
Die Ville Bianchi 1905 – wo rechts nur Lagune ist, entstanden später die Villen Erica, Alga und Reale.
Sigmund Freud zum Beispiel gab ein Zeugnis von dieser Mühsal. Der Psychoanalytiker war ein für seine Zeit weit gereister Mann, oft hatte es ihn nach Rom oder in die Toskana verschlagen. Eine Osterreise, die er im April 1898 mit seinem Bruder Alexander nach Görz und Grado unternahm, legte er indes »grantig zurück«. Nicht, weil die Fahrt vom Wiener Südbahnhof nach Görz von Freitagabend bis Samstagvormittag zehn Uhr dauerte, sondern weil es ab dort mühsam wurde. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb Freud: »Am Sonntag hieß es früh aufstehen, um mit der friaulischen Lokalbahn bis nahe Aquileja zu kommen. Die ehemalige Großstadt ist ein kleiner Misthaufen«, klagte Freud, aber wenigstens die Museen verfügten über einen unerschöpflichen Reichtum. »Um zehn Uhr wurde von einem merkwürdigen Motor ein kleiner Dampfer in den Kanal von Aquileja geschleppt, der gerade niedriges Wasser hatte. Der Motor hatte einen Strick um den Leib und rauchte während seiner Tätigkeit Pfeife. Den Dampfer hätte ich gerne den Kindern mitgebracht, er war aber als einzige Weltverbindung nach dem Kurort Grado nicht zu entbehren. Eine zweieinhalbstündige (!) Fahrt durch die ödesten Lagunen brachte uns nach Grado, wo wir endlich wieder am Strande der Adria Muscheln und Seeigel sammeln konnten.« Zweieinhalb Stunden ging es dann am selben April-Abend auch wieder zurück. Nicht einmal ein kluger Kopf wie Freud wird geahnt haben, dass man die Strecke keine 50 Jahre später mit dem Automobil in gerade einmal zehn Minuten zurücklegen würde.
Aber zurück zum Kaiser in Görz: 100 Fischer in ihrer traditionellen Kleidung machten Franz Joseph nebst den Stadtoberen ihre Aufwartung. Sie war, so wird erzählt, von Erfolg gekrönt, auch wenn der genaue Betrag der kaiserlichen Zuwendung in den Annalen nicht festgehalten ist. Dass der Kaiser milde und großzügig gestimmt war, hat ja vielleicht auch mit den Damen im Lesezimmer der Ville Bianchi zu tun. Beziehungsweise mit den Vorfahren der beiden Schwestern Fabrizii: »Meine Großmutter«, erzählt eine von ihnen, »hat dem Kaiser damals in Görz einen Blumenstrauß überreichen dürfen – mein Urgroßvater war Landespräsident von Krain. So kam sie zu dieser Ehre.«
4Alpenfloh und Butterstizzi
Zwei Schwestern machen die Villen des Baron Bianchi zum Sommerziel für Adel und Bürgertum. Ein Stammhalter wird mit blauen Handtüchern gefeiert. Und in einen alten VW passen 45 Koffer.
Sie stehen überall. In Vitrinen entlang der Gänge, auf Tischchen, im Büro. Sie sind auf Bildern zu sehen und auf Kalendern, und jede erzählt eine kleine Geschichte. 722 sind es inzwischen in der herrschaftlichen Wohnung am Viale Miramar in Triest, gleich neben dem alten Bahnhof, und es werden laufend mehr: Mäuse. Aus Stoff und aus Porzellan, Miniaturen aus Keramik und Silber, kitschige und hübsche, die kleinste keine zwei Millimeter groß, die wertvollste ein paar Hundert Euro schwer.
Jeder Mensch sammelt irgendetwas, heißt es. Die Contessa Marie Therese di Rossetti sammelt Mäuse. Seit sie in die Schule ging. Damals kam sie eines Tages mit einer kleinen Schmuckmaus am Revers in die Klasse. Die Lehrerin sprang auf einen Sessel und kreischte: »Tu die Maus da weg.« Die kleine Marie Therese tat sie weg – und beschloss fortan, Mäuse zu sammeln. Selbstbestimmt und ein starker Charakter, das war sie damals schon.
Die Contessa sammelt auch alte Fotos, Briefe, Dokumente. Historika ihrer Familie, der Bianchi. Akribisch und in Kartonboxen geordnet, in einem alten Schrank verwahrt. Mehr als ein Jahrtausend reichen die Belege der adeligen Dynastie aus Mailand zurück. Dass es diesen Schatz an Dokumenten und Aufzeichnungen gibt, ist ein Glück. Ohne ihn und ohne die Erinnerung seiner Besitzerin wäre ein entscheidender Teil der Geschichte Grados verloren. Wäre die Geschichte der Ville Bianchi nicht zu erzählen. Das sind jene fünf Villen, die seit ihrer Errichtung zum Wahrzeichen Grados geworden sind – schon allein deshalb, weil kein Haus malerischer und fotogener am langen Sandstrand liegt als sie. Die Contessa – ihr vollständiger Name ist Marie Therese di Rossetti de Scander geb. Bianchi – ist die Urenkelin des Baron Leonard Bianchi, des Gründers der Pension Ville Bianchi. Ohne ihn wäre die Geschichte des Seebades Grado wohl anders verlaufen.
Die Rossetti hat einen guten Teil ihrer Jugend in den Ville Bianchi verbracht.