aWay. Nic Jordan

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aWay - Nic Jordan

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Schien an diesem Ort kein unüblicher Wunsch zu sein, denn alle grinsten mich aus der Küche an und hoben ihre Daumen. In Frankreich hatte ich bisher immer nur gute Erfahrungen beim Trampen gemacht. Viele Male war ich durch dieses wunderschöne Land gereist, wenn ich nach Spanien oder wieder zurück nach Deutschland wollte. So gut wie immer waren die Fahrten hier äußerst entspannt verlaufen.

      Ich bedankte mich bei dem Kassierer mit der Zahnspange, schrieb ›Belgium‹ in Großbuchstaben auf das Pappschild und malte einen Smiley daneben. Die Menschen hier reagierten, wie nicht anders erwartet, unfassbar freundlich auf meinen Anblick. Fast in jedem Auto saß jemand, der hupte, winkte, »viel Glück« aus dem Fenster schrie oder sich entschuldigte, weil er keinen Platz oder ein anderes Ziel hatte. Als ich dastand und die vorbeifahrenden Autos mich in gute Laune versetzten, fiel mir auf, dass ich unterbewusst immer noch ein wenig steif war. Nach monatelangen strengen Arbeitswochen und Routinen konnte ich nicht ganz loslassen. In mir war das Gefühl verankert, jederzeit in die Arbeit zu müssen und einem Zeitplan zu folgen. Es war in unserer Gesellschaft ungewöhnlich, sich nicht an bestimmte Zeiten halten zu müssen.

      Der Fahrer eines kleinen Militär-Jeeps riss mich aus meinen Gedanken. Er nahm Blickkontakt auf und fegte mit seinen Armen verzweifelt irgendwelche Gegenstände vom Beifahrersitz. Nach einiger Zeit schien er aufzugeben, denn er signalisierte mir, dass er keinen Platz hätte. Doch diese Antwort akzeptierte ich nicht und winkte ihn trotzdem zu mir. Meine Überzeugungskraft funktionierte aus der Entfernung einwandfrei. Er riss sein Lenkrad zur Seite und fuhr quer über zwei Spuren in meine Richtung, beinah auch über eine ältere Dame auf ihrem Fahrrad, die völlig entsetzt etwas auf Französisch rief. Mit quietschenden Reifen brachte er sein Fahrzeug neben mir zum Stehen. Fast hätte er mit seiner Aktion ein veritables Verkehrschaos ausgelöst. Wie ein aufgedrehter Welpe sprang er aus dem Fahrzeug, stellte sich vor und fing direkt an, seine Sachen umzuräumen. Er wühlte sich durch die seltsamsten Gegenstände, und ich sah ihm amüsiert zu. Verwirrenderweise konnte ich ihn nicht sofort einordnen. Er war attraktiv, hatte einen Vollbart, sprach mit amerikanischem Akzent Englisch, behauptete aber, Italiener zu sein. Sein Auto war vollgepackt mit ungewöhnlichen Dingen wie zum Beispiel einem Magierhut, einer Jacke aus Federn und anderen Gegenständen, die alle fast schon mittelalterlich wirkten. Diese Art von Menschen sind mir die liebsten, denn man kann sich absolut nicht zusammenreimen, was ihre Geschichte ist. Ich konnte es kaum erwarten, mehr über ihn zu erfahren.

      Nachdem Sack und Pack in den Kofferraum und auf die nicht vorhandene Rückbank gestopft worden waren, konnte ich endlich einsteigen. Meinen 80-Liter-Backpack musste ich allerdings auf dem Schoß behalten, denn so viel Platz war dann leider doch nicht. Wir düsten los in Richtung Belgien, und nachdem ich die letzten Stunden keine Gesprächspartner gehabt hatte, war ich ganz hibbelig vor Neugier und löcherte Dave mit Fragen. Irgendwann fiel natürlich auch die Frage, wieso er all diese seltsamen Sachen dabeihatte. Er sagte, dass er Schauspieler auf Mittelalterveranstaltungen sei und gerade aus Schottland nach Hause fahre. Zu Hause war für ihn Mailand.

      Einige gute Gespräche und unzählige Country-Songs später überquerten wir die Grenze nach Belgien. Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Eine leichte Brise wehte durch die Fenster, und die Landschaft leuchtete in allen Farben, die der frühe Herbst zu bieten hatte. Dave erwähnte nebenbei, dass er noch bei einem alten Bekannten in Nieuwpoort halten und erst am nächsten Tag weiter Richtung Brüssel fahren würde. Ich wollte eigentlich heute schon in Brüssel ankommen und hatte mich mal wieder auf den Gedanken versteift. Aber plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich genau das ablegen wollte: dieses Plänemachen. Dave bot mir an, mit ihm bei seinem Freund an der belgischen Küste zu übernachten.Wieso sollte ich nicht einfach mit dem Flow gehen? Es fühlte sich richtig an, und wir hatten uns noch viel zu erzählen.

      Als wir an der Adresse ankamen, die Dave per SMS bekommen hatte, standen wir vor einer Kirche. Vom Gastgeber war weit und breit keine Spur. Verwirrt sahen wir uns um und überprüften zum wiederholten Mal die Adresse auf dem kleinen, zerkratzen Bildschirm. Die Kirchentür war verschlossen, also blieb uns nichts anderes übrig, als unter dem Apfelbaum im Vorgarten Schatten zu suchen und zu warten.

      Es dauerte 20 Minuten, bis ein junger, rund gebauter Mann in der Ferne auftauchte. Grinsend stapfte er auf uns zu und hüpfte schließlich fast vor Freude. Seine roten Backen glühten unter seinem langen, unkontrolliert wachsenden Vollbart. Dave und unser Gastgeber lagen sich eine gefühlte Minute lachend in den Armen. Der Anblick machte mich so glücklich, dass es mich überkam und ich beide zusammen einfach mit umarmte. Dave stellte den Gastgeber auch als Dave vor, also bekam der Fahrer Dave den Spitznamen Davey. Dave erklärte uns, dass er tatsächlich Teil einer Gemeinde war und wir heute in einer Kirche übernachten würden. Wir hatten beide nicht damit gerechnet, aber waren begeistert, so eine Erfahrung machen zu können. Abgesehen davon lag mir die Nacht am Strand noch ordentlich in den Knochen, und ich freute mich einfach nur über ein Bett.

      Zum Sonnenuntergang unternahmen wir einen spontanen Trip zum Meer, und so endete der Tag für mich, wie er angefangen hatte. Wir waren die Einzigen an diesem Strand, also legten wir alle unsere Kleidung ab und schwammen, wie Gott uns schuf, während das Meer sämtliche Schattierungen des strahlend blauen Himmels spiegelte.

      Zurück am Pfarrhaus gab es noch Abendbrot im Hinterhof. Anschließend kletterten wir aufs Dach, wo wir bei einem Glas Wein Geschichten austauschten und die vorbeifliegenden Sternschnuppen zählten. So ließen wir einen weiteren unvergesslichen Tag auf meinem Ritt in die Freiheit ausklingen.

      Ein lauter Knall gefolgt von einem Aufschrei im Gang riss mich frühzeitig aus meinem wohlverdienten Schlaf. Ich öffnete die Augen, die Sonne schien mir vom Dachbodenfenster direkt ins Gesicht. Der Tag begrüßte mich liebevoll, aber dem Lärm wollte ich trotzdem auf den Grund gehen. Langsam stolperte ich zur Tür und öffnete sie einen Spalt, um nachzusehen, was im Flur vor sich ging. Ich blieb nicht unbemerkt, das Quietschen der alten Holztür verriet mich. Ein kleiner Mann mit blau-weiß gestreiftem Pyjama und zerzausten Haaren stand vor einem Berg aus Wattestäbchen und einigen Scherben, die sich vor seinen Füßen auf dem Boden verteilt hatten, und starrte regungslos in meine Richtung. Sein dicker Bauch ragte unten aus dem Pyjamaoberteil heraus, und direkt vor seinem haarigen Bauchnabel fehlte ein Knopf. Lächelnd ging ich auf ihn zu, um ihm zu helfen. Allerdings war seine Reaktion anders, als erwartet. Erschrocken rannte er so schnell vor mir davon, dass er mit seinen Socken auf dem glatten Boden ausrutschte. Mit einem weiteren Knall landete sein fleischiger Körper auf dem Boden. Um uns herum öffnete sich eine Tür nach der anderen, und die Bewohner dieser kleinen Gemeinde kamen aus ihren Türen. Wer nicht wie ich vom ersten Knall geweckt worden war, stand spätestens jetzt nach dem zweiten im Flur. Keiner schien überrascht über das Chaos oder über den am Boden sitzenden Mann, der sich seine Ohren zuhielt. Ohne zu kommunizieren, wurde das Chaos beseitigt und der Mann von jemandem die Treppe runter begleitet.

      Wir versammelten uns alle in der Küche. Zuerst wurde kein Wort über den Zwischenfall verloren, und alle halfen mit, das Frühstück zu servieren. Bei einer frischen Tasse schwarzem Kaffee und Toast mit Erdnussbutter erfuhr ich, dass keiner so recht wusste, wo der Mann herkam. Anscheinend war er wochenlang verwahrlost neben der Kirche rumgesesssen. Das Dorf war klein, und der Besuch des fremden Obdachlosen hatte sich schnell rumgesprochen. Immer wieder hatten Menschen versucht, mit ihm zu sprechen, doch keiner schaffte es, sein Schweigen zu brechen. Einige Gemeindemitglieder beobachteten eines Tages, wie er einen verletzten Vogel verarztete, und sahen sein gutes Herz. Am selben Tag noch wurde abgestimmt, ob man den Mann aufnehmen wollte, und alle entschieden sich einstimmig dafür. Als sie ihn reinbaten, wehrte er sich nicht und fühlte sich direkt wie zu Hause. Sie rasierten seinen ungepflegten Bart, bekämpften seine Läuse, gaben ihm zu essen und beschlossen, dass er von nun an Teil der Gemeinde war. Etwas mehr als ein Jahr lebte er nun schon bei ihnen, und bis heute hat er kein Wort gesprochen. Eine der Frauen am Tisch erzählte, wie liebevoll er sich um den Haushund kümmerte. Eine andere berichtete von seinem Tick, alles sortieren zu müssen, was auch das Wattestäbchenchaos heute früh erklärte.

      Angeblich war er meistens einfach nur passiv dabei und machte sich kaum bemerkbar. Ausweispapiere hatte er nicht, und seine

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