aWay. Nic Jordan
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Читать онлайн книгу aWay - Nic Jordan страница 16
Für mich war Ula immer wie eine Tante. Wärme und Liebe erfüllten mich, wenn ich an jene Tage dachte. Ich folgte freudig der Wegbeschreibung zu ihrer Wohnung, die mich einmal durch die ganze Stadt führte. Überall erkannte ich Orte wieder, sogar bestimmte Cafés und Restaurants, die wir bei besonderen Events besucht hatten und die sich anscheinend immer noch erfolgreich hielten. Es war wie eine Reise in die Vergangenheit, nicht viel hatte sich hier verändert. Die Häuser hatten alle einen grauen Schleier, da man bis heute in den meisten Haushalten mit Kohle heizt – dementsprechend lag das ganze Jahr über ein bestimmter Geruch in der Luft. Die Straßen waren genau wie früher mit Schlaglöchern und Unebenheiten versehen, die aufgrund von mangelnden Geldern teilweise seit der Kriegszeit nicht berichtigt worden sind.
Das GPS führte mich zu einem großen Plattenbau. Das Haus war eine Art Betreutes Wohnen für Senioren. Hier lebt Ula mittlerweile mit ihrer Mutter zusammen in einer 1,5-Zimmer-Wohnung. Vor einigen Jahren hatte sie sich von ihrem Mann scheiden lassen. Als mir meine Mutter davon erzählte, brach es mir das Herz. Ula und ihr Mann waren für mich als Kind immer das perfekte Beispiel für eine heile Familie gewesen.
Im achten Stock öffnete sich mein Fahrstuhl, und dahinter kam Ula zum Vorschein, die mich mit einem Aufschrei der Freude und einer unfassbar festen Umarmung begrüßte. Meine geliebte ciocia war immer noch wunderschön. Mittlerweile waren ihre Haare nicht mehr blond gefärbt, sondern naturweiß. Ihre Stimme war immer noch so hoch und quietschig wie damals, und auch den großen goldenen Ohrringen hatte sie nicht abgeschworen. Ihr kleines Apartment war liebevoll eingerichtet mit alten Holzmöbeln und Textilien mit Blümchenmuster; auf dem Boden war ein weicher Teppichboden verlegt. Der Blick aus dem Fenster war von einer weißen Rüschengardine verdeckt, und im Zentrum des Raumes stand ein alter Röhrenfernseher vor tiefen weißen Sesseln und einer Glasvitrine voller Schwarz-Weiß-Fotos. Ich musste kurz daran denken, wie halbherzig ich meine Wohnungen immer eingerichtet hatte, mit dem Hintergedanken, dass ich eh nicht lang bleiben würde. Der Gedanke an ein Zuhause beruhigte und beängstigte mich zugleich.
Wir ließen den Abend bei einem gemeinsamen Abendessen ausklingen. Ciocia Ula verwöhnte mich mit einer traditionellen polnischen Gurkensuppe aus fermentierten Dillgurken, Gemüse und Kartoffeln. (Normalerweise gab man auch Sahne dazu, aber auf diese verzichtete ich meistens.) Jedes Mal wenn ich fast aufgegessen hatte, ging meine ciocia ihrem Job als gute Tante nach und legte mit dem Schöpflöffel nach. Im Anschluss schwatzte sie mir noch ein Stück Beerenkuchen auf, und hier kam ich um das Häufchen Sahne nicht herum. Mit einem Kuss auf die Wange bedankte ich mich für den Tag und das Essen und ging in mein gemachtes Bett. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich es schaffte, zu schlafen. In einer Welt aus Fragen, Erinnerungen, Liebe und Angst kreisten meine Gedanken mit dem Mond durch die Nacht.
Ein Rascheln und unverständliches Getuschel weckten mich am nächsten Morgen. Verschlafen schlenderte ich in die Küche. Ula überforderte mich direkt nach Betreten des Raumes mit einem Meer an Fragen zu meinen Plänen. Ich rieb mir die Augen und versuchte alles zu beantworten, ganz oben auf meiner Liste stand ja der Besuch bei meinem Vater. Besonders schwer konnte es nicht sein, ihn ausfindig zu machen, da Katowice eine kleine Stadt und mein Vater nicht gerade unbekannt war.
Meine ciocia half mir bei der Suche und telefonierte systematisch durch ihren Bekanntenkreis. »Hallo, meine Liebe, lang nichts mehr gehört. Du, eine Frage, hast du die Telefonnummer von Leszek? … Nein, der ist nicht tot. … Ja, ganz sicher! … Alles klar, trotzdem danke.«
In dieser Art verliefen die ersten Gespräche. Viele Leute hatten ihn seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen, wussten angeblich nicht, wer er sei, oder wollten ihn nicht mehr kennen. Die Suche gestaltete sich schwerer als vermutet, doch auf einmal änderte sich der Klang von Ulas Stimme. Sie quietschte mehr als üblich, und ihr Gesicht leuchtete. Sie lief ins Nebenzimmer und kritzelte etwas auf die Ecke einer alten Tageszeitung.
»Ich habe die Nummer von deinem Onkel, der kann uns sicher mehr Auskunft darüber geben, wo sich dein Vater aufhält.«
Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Insgeheim hatte ich Angst, meinem Vater zu begegnen, und ein Teil von mir hatte gehofft, dass ich ihn nicht ausfindig machen würde und mir die Konfrontation erspart bliebe. Jetzt musste ich mich der Situation stellen. Ich ging zögernd auf meine Tante zu, sie streckte mir ihr Telefon und das Stück Papier entgegen und blickte mir unterstützend in die Augen. Das Telefonat mit meinem Onkel war sehr schön, ich hatte ihn seit circa 15 Jahren nicht mehr gesprochen oder gesehen. Er war sofort bereit, mir zu helfen, und obwohl er schon länger keinen guten Kontakt mehr zu meinem Vater hatte, wollte er ihn für mich anrufen.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis mich das schrille Klingeln des alten Telefons aus meinen Tagträumen riss. Ich nahm den Hörer in die Hand, atmete noch mal tief durch und ging ran: »Hallo?«, hauchte ich unsicher.
»Ciao, Nicola, warum sagst du mir nicht vorher, dass du zu Besuch kommst? Muss ich es wirklich von anderen erfahren? Und außerdem: Wieso übernachtest du bei Fremden wie Ula und nicht bei deinem Vater?«
Wow … was für ein Einstieg! Der erste Kontakt begann genau wie der letzte damals geendet hatte: mit einem Vorwurf. Ich hielt einen Moment lang inne, weil ich sonst das Feuer wieder eröffnet hätte. Es war seltsam, seine Stimme zu hören. Sie hatte sich nicht verändert und war so vertraut, aber in den letzten Jahren hatte ich vergessen, wie sie klang. Ich erklärte ihm, wieso ich mich meldete. Ich erzählte von meinem Vorhaben und bat ihn um ein Treffen.
Er lud mich ein, und wir vereinbarten, dass ich heute noch zu ihm fahren würde. Im Taxi bereitete ich mich innerlich auf unser Gespräch vor. Die Reise, die mir bevorstand, brachte gewisse Gefahren mit sich, und es war unabsehbar, wie lange ich reisen würde. Es wäre eine riesige Erleichterung, wenn ich mich davor mit meinem Vater versöhnen könnte.
Wir bogen in die Straße ein, die er dem Taxifahrer am Telefon genannt hatte, und da stand er. Alt war er geworden. Mein Herz stockte. Er war kleiner als in meiner Erinnerung und trug einen Hut und eine Brille. Ein dichter, langer weißer Bart verdeckte den größeren Teil seines Gesichts.
Als ich ausstieg, reichte er dem Taxifahrer Geld und sah mich zunächst nicht an. Dann drehte er sich zu mir und nahm mich wortlos in den Arm. Seine Arme fühlten sich schwach an um meinen Hals, und er roch immer noch wie damals. Ich verspürte ein Zittern und Tränen auf meiner Schulter, dann drückte er mich noch einmal fester, bevor er sich losriss und den Moment abrupt beendete, als schämte er sich dafür, die Fassung verloren zu haben. Mit seinen faltigen Händen wischte er sich schnell die Tränen unter der Brille weg. Seine Hände weckten Erinnerungen. Damals waren sie stark und furchterregend, heute wirkten sie schwach, und die Altersflecken erinnerten mich daran, wie viel Zeit verstrichen war.
Er lief voraus in ein altes schönes Haus mit Marmortreppe. Hinter der großen hölzernen Wohnungstür kam ein kleines, circa vierjähriges Mädchen mit rosa Brille und glatten blonden Haaren zum Vorschein.
»Sag hallo, Nicole, das ist deine Schwester Nicola.«
Ich blieb wie versteinert stehen. Meine Schwester? Ich habe eine kleine Schwester? Ich war sprachlos, aber versuchte mir ein Lächeln aufzuzwingen. Die Kleine musterte mich neugierig aus der Ferne.
»Was ist denn mit euch?«, fragte mein Vater. »Nehmt euch in den Arm oder so! Ihr seid Schwestern.«
Ich war mir nicht sicher, was mich gerade am meisten verstörte. Das Mädchen und ich trugen fast den gleichen Namen. Wieso wusste ich nichts von ihr? Wieso tat er so, als wäre es völlig normal, dass wir gerade aufeinandertrafen?
Nicole