aWay. Nic Jordan
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Читать онлайн книгу aWay - Nic Jordan страница 15
Mittlerweile war mein Bruder seit Jahren weg, und ich hatte damit Frieden geschlossen, soweit man mit so etwas eben Frieden schließen konnte. Dass mein Vater einen Schuldigen suchte, zeigte nur seine eigene Verzweiflung, was ich damals nicht so hatte sehen können, da ich selbst erschüttert war. Die ersten Jahre nach Didis Selbstmord hatte ich mir immer wieder selbst die Schuld gegeben, und deswegen reagierte ich umso allergischer auf die Anschuldigungen meines Vaters. Es war nicht, als hätte er Salz in meine Wunde gestreut, sondern als hätte er Essigsäure drübergeschüttet und versucht, sie in Brand zu setzen. Das Feuer hatte ich gelöscht und die Wunde verarztet, so gut es möglich war.
Ich war das Küken in der Familie und war es nicht gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und allein zu sein. Doch nach dem Tod meines Bruders kümmerte ich mich um die Bestattung, den Papierkram und die Kosten. Meiner Mutter ging es unfassbar schlecht, und ich wollte nicht, dass jemand in meiner Familie sich mit all den Dingen rumschlagen musste. Tief in mir wusste ich, dass mein Bruder das so gewollt hätte. Ich war davor das sorglose jüngste Kind der Familie gewesen und wurde über Nacht mit dem Schicksalsschlag erwachsen. Zum wiederholten Mal hatte mein Bruder mein Leben verändert und mir auf brutale Art und Weise gezeigt, wie man erwachsen wird.
Wieso ich trotz der furchtbaren Anschuldigungen meines Vaters nach Polen wollte, um mit ihm zu sprechen? Mich hatte vor einem halben Jahr das Gerücht erreicht, dass mein Vater verstorben sei. Dieses war von Bekannten in die Welt gesetzt worden, die nicht weit weg von ihm wohnten. Sie hatten in einer Nacht beobachtet, wie ein Krankenwagen kam und meinen Vater mitnahm, und kurz darauf war seine Wohnung verkauft worden. Als ich damit konfrontiert wurde, löste es eine Welle von Emotionen in mir aus. Ich hatte in der Vergangenheit aus Wut Sachen gesagt wie »Soll er zur Hölle fahren« und »Es ist mir egal, was mit ihm ist und wie es ihm geht«. Aber in dem Moment, in dem es angeblich so war und ich dachte, nie wieder mit ihm sprechen zu dürfen, fühlte ich Trauer, und jedes Fünkchen Wut, das immer wieder in mir aufgeblitzt war, war erloschen. ›Wie schön es doch gewesen wäre, mich noch einmal mit ihm auszusprechen‹, dachte ich mir damals.
Mein Vater ist ein sehr spezieller und unfassbar schwieriger Mensch, dessen Erziehungsmethoden aus Gewalt bestanden. Ich erinnerte mich an viele Situationen, in denen ich Angst hatte. Angst vor meinem Vater und davor, etwas zu tun, was ihn wütend machte. Es waren immer Kleinigkeiten, die ihn aus der Fassung brachten. Ich habe als Kind nicht verstanden, was ich falsch gemacht habe und wieso ich immer so bestraft wurde. Oft waren es banale Momente, in denen ich zum Beispiel mit meinem älteren Bruder rumalberte und mein Vater zur gleichen Zeit die Nachrichten sehen wollte. Wir störten ihn, und Gewalt oder Schreie waren seine Art und Weise, uns das du zeigen. Doch über die Jahre habe ich aus der Ferne mehr und mehr gesehen. Durch Selbstreflexion und Beobachtung bekam ich das Gefühl, auch meinen Vater ein wenig besser zu verstehen. Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, verspürte ich viel Liebe für ihn. Ich war bereit, ihm in die Augen zu sehen, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, wie er reagieren und was sich aus meinem Friedensangebot ergeben würde.
Bartek unterbrach meine immer tiefer rutschenden Gedanken, als er von der Tankstelle zurückkam und bereit war, weiterzufahren. Er rief euphorisch: »I have a new car for you to go to Poland.«
Sein Sohn hing an seiner Hand und freute sich mit ihm.
Drei junge Menschen standen vor einem roten Sportwagen, zwei Männer und eine blonde Frau musterten mich neugierig. Ich bemerkte das polnische Nummernschild und fragte auf Polnisch, bis wohin sie fuhren. Die drei sahen mich verdutzt an, weil sie nicht erwartet hatten, dass ich ihre Sprache beherrschte.
»Katowice«, antwortete die Blondine. »Sicher willst du woanders hin, aber wir können dich bis dahin mitnehmen.«
Katowice hatte nicht viel zu bieten, was man als Tourist sehen wollen würde. Die Jungs und Mädels waren völlig aus dem Häuschen, als ich ihnen erklärte, dass ich genau dorthin wollte.
Ich verabschiedete mich von meinen lieb gewonnenen tschechischen Freunden und kletterte in das nächste Fahrzeug.
Wenn ich Polnisch spreche, habe ich einen sehr seltsamen Akzent, wird mir oft gesagt. Meine Mutter hatte immer mit mir Deutsch sprechen wollen, um selbst besser zu werden, und so fehlte mir die Übung. Die Fahrt nach Katowice dauerte nicht lange, und allgemein waren die Insassen zwar gesprächig, aber viele gemeinsame Themen ließen sich nicht finden. Sie nahmen sich andauernd gegenseitig auf die Schippe, und wenn sie nicht verstanden, was ich ihnen zu sagen versuchte, reagierten sie einfach mit Lachen. Dieses Verhalten brachte mich irgendwann auf die Palme, und mir verging die Lust, zu erzählen. Dass man sich nicht mit jedem Menschen versteht, mit dem man ein Auto teilt, ist selbstverständlich. Manchmal sitzt man stundenlang mit einem Fremden im Auto, der entweder deine Sprache nicht spricht oder der dich einfach nicht verstehen kann. Aber aus jeder Begegnung konnte man etwas lernen, und in diesem Fall waren es wohl Geduld und Akzeptanz.
Ich schloss einen Moment lang meine Augen und versuchte, mich an das Gefühl zu erinnern, das ich als kleines Mädchen hatte, wenn ich mit meinen Eltern nach Polen fuhr. Ich hatte mich zwar immer gefreut, mal wieder unterwegs zu sein, aber Polen gehörte damals nicht zu meinen Lieblingszielen. Im Nachhinein betrachtet, hing das wohl damit zusammen, dass mein Bruder Polen nicht mochte und er immer eine Vorbildfunktion für mich hatte.
Wir näherten uns dem Ziel, und ich wurde nervös. Eine seltsame Melancholie unterbrach meine Fähigkeit, im Moment zu sein, und ich versank in einer Mischung aus Kindheitserinnerungen und Zukunftstheorien. Konzentriert starrte ich aus dem Fenster und betrachtete jedes einzelne Haus. Immer wieder dachte ich: ›Daran kann ich mich gar nicht erinnern … Oder doch?‹ Es war, als wäre meine Erinnerung tief in mir verschüttet.
Wir kamen an einer kleinen Tankstelle am Stadtrand zum Stehen. Von hier aus musste ich laufen. Oder besser gesagt: Von hier aus wollte ich laufen. Ich verabschiedete mich von meinen Mitfahrern und machte mich auf den Weg. Eigentlich wusste ich nicht wirklich, in welche Richtung ich musste, aber ich folgte meinem Instinkt, der mich zu einem Friedhof führte. Wie angewurzelt blieb ich vor dem Eingang stehen, und meine Gedanken wurden überflutet mit Bildern aus der Vergangenheit. Mit einem Mal war meine Erinnerung freigelegt, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Es war der Friedhof, an dem meine Großeltern begraben liegen. Links vor dem Eingang war immer noch derselbe Blumenstand wie damals und auf der rechten Seite ein Laden, der Friedhofskerzen in allen Größen und Formen verkaufte. In Polen wird sehr viel achtgegeben auf die Gräber der Verwandten. Man zelebriert es als gemeinsame Familienaktivität, in regelmäßigen Abständen die Gräber der Verstorbenen zu besuchen, zu pflegen und zu schmücken.
Ein kleines Kind rannte gegen mein Bein und holte mich zurück in die Gegenwart. Der Kleine sah mich irritiert an, kratzte sich am Kopf und lief dann beschämt zu seiner Mutter. Mein Handy vibrierte in diesem Moment, eine Nachricht von meiner Mutter. Sie wollte sich vergewissern, dass ich gut angekommen bin, und schickte mir die Adresse meiner ciocia Ula Spiegel.
Ciocia bedeutet Tante, auch wenn Ula nicht wirklich meine Tante ist. Meine Mutter und Ula waren zusammen zur Schule gegangen und sind seit fast 50 Jahren befreundet. Regelmäßig war sie mit ihrem Sohn und ihrem Ex-Mann nach München gekommen und hatte uns mit ihrem riesigen Wohnwagen auf lange Ausflüge in die Natur entführt. Wir stellten uns dann an Seen oder Flüsse und