Ein MORDs-Team - Der komplette Fall Marietta King. Andreas Suchanek

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Reach«, erklang die tiefe Männerstimme mit einem englischen Akzent am anderen Ende. »Wie ich sehe, haben Sie meine Nachricht erhalten.«

      Rebecca lief ein Schauer den Rücken hinunter. Die Stimme klang unheimlich und freundlich zugleich. Wie der nette Onkel von nebenan, der einem in der nächsten Sekunde ein Messer in die Brust rammen wird. »Wer sind Sie?«

      »Wer ich bin, spielt keine Rolle, aber Sie dürfen mich Graf nennen.«

      Ein Graf? »Was wollen Sie von mir? Ich kenne keinen Grafen.«

      »Noch nicht, aber sie werden mich kennenlernen, wenn Sie weiterhin so viel Aufmerksamkeit von falscher Stelle auf sich lenken.«

      »Bitte?«

      »Hören Sie auf, Sheriff Bruker auf die Füße zu treten.«

      »Aber er …« Meinte er ihren Ausraster auf dem Revier? »Dieser Kerl ist die Inkompetenz in Person! Ich habe Anzeige erstattet und er kümmert sich lieber um seine Donuts, statt um seine Arbeit.«

      »Wenn Ihnen Bruker noch einmal die Steuerprüfung auf den Hals hetzt, werden Sie als nächstes Kunstwerk an der Wand Ihrer Galerie landen. Ich habe sogar den passenden Titel für das Werk: Aufgespießtes Echtfleisch. Noch lauwarm.«

      »Was bilden Sie sich ein? Ich lasse mir von Ihnen nicht drohen!«

      »Das sollten Sie aber, Rebecca Reach. Ich weiß alles über Sie. Von Ihrer Vorliebe für die netten kleinen Pillen, die zurzeit in allen Kreisen herumgereicht werden, bis hin zu Ihrer kranken Mutter in Pasadena.«

      Großer Gott, dachte Rebecca. Das hielt sie strengstens geheim. Sie wollte keine Presse wegen des Gesundheitszustandes ihrer Mutter.

      »Ich weiß, wo Sie wohnen, wo Ihre Familie wohnt, wo Ihre Freunde wohnen, wo die Kinder Ihrer Freunde wohnen. Der Einbruch in der Galerie war ein Warnschuss für Sie, gebunden an eine Forderung.«

      »Ich werde jetzt auflegen. Sie sind ja komplett irre!« Rebecca drehte sich um und wollte den Hörer auf die Gabel knallen, als sie in ein kleines rotes Licht direkt über dem Telefonapparat sah.

      Sie drehte sich um und hielt die Muschel wieder an ihr Ohr.

      »Ich sehe, wir haben uns verstanden. Ich bin in der Nähe. Ich beobachte sie. Wenn Sie dieses Gespräch vorzeitig beenden, wird es Ihr letztes gewesen sein.«

      Rebecca fuhr sich an die Kehle. Ihr wurde noch heißer als ihr ohnehin schon war. Sie blickte sich um, sah zu den Hochhäusern und den Wohnblöcken, aber natürlich erkannte sie niemanden. Der Kerl konnte überall sitzen.

      »Was wollen Sie?«, fragte sie leise.

      »Ich habe also Ihre Aufmerksamkeit?«

      Rebecca nickte. Wenn er sie beobachtete, konnte er auch das sehen.

      »Sehr gut. Sie hören mir jetzt ganz genau zu …«

      *

      Ein Samstagmorgen

      Chris wartete unter einer Eiche im Schatten, steckte einen Kaugummi in den Mund und blickte aufs Meer, das sich weit unter ihm sattblau bis zum Horizont erstreckte. Das Hospiz lag in den Bergen in einem alten Herrenhaus, das für diesen Zweck umgebaut worden war. Die Patienten konnten hier in Ruhe und Frieden ihre letzten Wochen verbringen. Chris hatte schon befürchtet, dass es hier trostlos sein würde. Unter todkranken Menschen zu sein, stellte er sich sehr beklemmend vor, aber die Atmosphäre und die Energie dieses Ortes strahlten genau das Gegenteil aus. Außerdem roch es angenehm nach Sommer, Salz und Freiheit. Chris liebte es, am Meer zu sein. Es hatte etwas Erlösendes, und jedes Mal, wenn er das viele Wasser sah, wurde ihm bewusst, wie klein seine Probleme doch eigentlich waren. Leider ließ ihm sein Job nicht so viel Zeit für Ausflüge dieser Art. Mit Lucian war er ständig auf Achse. Heute New York, morgen Paris, übermorgen Sydney. Chris’ Welt bestand aus Hotelzimmern, Reisekoffern und perfekt dosierten Duschgels. Manchmal wachte er morgens auf und musste erst einmal überlegen, in welcher Stadt er überhaupt war. Für Außenstehende mochte das aufregend und spannend klingen, in Wahrheit bekam Chris kaum etwas von den Orten mit, die sie bereisten. Stattdessen verharrte er stundenlang in fensterlosen Studios, stimmte Termine mit Agenten ab oder war damit beschäftigt, Lucian Kaffee zu besorgen. Als er den Job als Assistent bei ihm angetreten hatte, hatte Chris tatsächlich geglaubt, selbst auch mal zum Zug zu kommen. Natürlich hatte er Kontakte knüpfen können, aber die brachten ihm nicht viel, denn die wollten lieber mit Lucian statt mit Chris zusammenarbeiten. Wozu sich mit dem Lakaien beschäftigen, wenn man den König haben konnte? Immerhin hatte Chris viel über das Fotografieren gelernt. Er wusste aus dem Effeff, wie er die Blende im Zusammenspiel mit der ISO und der Belichtung einstellen musste, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Er kannte sich mit Striplight, Octaboxen und Portys aus. Er wusste, wo es gutes Equipment zu mieten gab und welche Firmen auch gerne mal das ein oder andere Objektiv verschenkten, nur, damit es Lucian lobend erwähnte. Chris hatte in zwei Jahren bei Lucian mehr erlebt als so manch anderer Mensch in zwanzig – und Chris war erst vor kurzem neunzehn geworden. Zum Teil stimmte sogar, was man über die Modelszene sagte: Alkohol, Drogen, Sex, Partys … Chris hatte zu Beginn viel mitgenommen, viel probiert und vieles bereut. Irgendwann hatte er festgestellt, dass er seinen Job besser erledigen konnte, wenn er einen klaren Kopf behielt und hatte dem ausufernden Partyleben abgeschworen.

      Sein iPhone vibrierte in der Tasche. Er nahm es heraus, um zu sehen, ob jemand anrief, aber es war nur der eingestellte Termin, der ihn an das Treffen mit Olivia erinnerte. Er stellte den Vibrationsalarm ab, damit sie ungestört sein würden. Heute war er fünf Minuten früher zum Treffpunkt gekommen. Er wollte Olivia nicht schon wieder warten lassen, gestern war er einfach nicht schneller weggekommen. Rebecca hatte ihn noch mit tausend Aufgaben bombardiert, als wäre er auf einmal auch ihr Assistent und nicht der von Lucian. Manchmal kam sich Chris vor wie ein Spielzeugmännchen, das man x-beliebig weiterreichen konnte.

      Das Quietschen von Reifen ließ ihn aufblicken. Auf dem sandigen Parkplatz bremste ein ramponierter schlammgrüner Dodge. Eine Staubwolke waberte hoch und hüllte den Wagen ein. Die Fahrertür ging auf und Olivia stieg aus. Chris lächelte. Sie sah zum Anknabbern aus. Heute trug sie ein Sommerkleid in einem hellen Grün. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, an ihren Ohren baumelten zwei große silberne Kreolen, passend dazu trug sie ebenso silberne Armreife, die aneinander klimperten, als sie die Autotür schloss. Ob sie auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, wie gut sie aussah? Chris musste sie unbedingt fotografieren. Seit ihrem ersten Zusammentreffen überlegte er bereits, in welchen Posen und Lichtstimmungen er sie knipsen könnte. Am liebsten nach einer stürmischen Nacht, eingehüllt in meine Bettdecke.

      »Guten Morgen«, sagte er, stieß sich vom Stamm der Eiche ab und nahm die zwei Becher Kaffee mit, die er auf einem Tisch neben dem Baum abgestellt hatte.

      »Olà«, rief sie fröhlich zurück. Das Telefonat gestern Abend hatte die anfänglichen Schwierigkeiten komplett beseitigt. Chris hatte sich noch nie so lange – immerhin drei Stunden – und so gut mit einer Frau unterhalten. Sie hatten übers Fotografieren, über das Leben, über ihre Hoffnungen und Wünsche geplaudert. Dabei hatten sie zwar das Thema Geld vermieden, aber Chris war durchaus klar, dass Olivia aus ärmlichen Verhältnissen stammte. Vor allem, weil er noch nach dem Gespräch nach ihr gegoogelt hatte und so ihre Adresse erfuhr. Sie wohnte in den Favelas, dem Armenviertel von Barrington Cove.

      Olivia blieb vor ihm stehen und lächelte.

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