Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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Читать онлайн книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant страница 74
»Die Emporkömmlinge des Bürgertums schwärmen immer noch für Abfälle aus adligem Geschlecht.«
»Sonst liegt kein Grund vor?«
»Keiner.«
Am Tisch hatte jetzt eine politische Debatte zwischen dem Chef, den beiden Deputierten, Norbert de Varenne und Jaques Rival begonnen; sie dauerte bis zum Dessert.
Als man wieder im Salon war, näherte sich Duroy von Neuem Madame de Marelle. Er sah ihr tief in die Augen und fragte:
»Darf ich Sie heute nach Hause begleiten?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Herr Laroche-Mathieu, der mein Nachbar ist, mich jedes Mal bis zur Haustür begleitet, wenn ich hier abends bin.«
»Wann darf ich Sie dann sehen?«
»Kommen Sie morgen zum Frühstück.«
Ohne ein weiteres Wort trennten sie sich.
Duroy blieb nicht lange. Er fand die Gesellschaft zu eintönig. Auf der Treppe holte er Norbert de Varenne ein, der sich ebenfalls empfohlen hatte. Der alte Dichter fasste ihn unterm Arm. Da sie auf so verschiedenen Gebieten tätig waren, brauchte er seine Rivalität nicht zu fürchten und brachte dem jungen Manne ein gewisses väterliches Wohlwollen entgegen.
»Wollen Sie mich ein Stückchen nach Hause begleiten?« fragte er.
»Mit größtem Vergnügen, verehrtester Meister!«
Sie gingen langsam weiter und schritten den Boulevard Malherbes hinunter.
Paris lag in dieser kalten Winternacht fast menschenleer da,. Es war eine Nacht, in der die Sterne viel weiter entfernt schienen als sonst und der eisige Windhauch aus der Unendlichkeit des Weltalls weit jenseits der Sterne zu kommen scheint,
Anfangs sprachen die Männer kein Wort; dann äußerte Duroy, um doch etwas zu sagen:
»Herr Laroche-Mathieu scheint recht klug und unterrichtet zu sein.«
»Finden Sie?« murmelte der alte Dichter.
Überrascht und zögernd erwiderte Duroy:
»Allerdings, er gilt ja für einen der fähigsten Köpfe in der Kammer.«
»Möglich. Unter den Blinden ist der Einäugige König. Diese ganze Gesellschaft, sehen Sie, ist sehr mittelmäßig. Ihr Geist steckt zwischen zwei Wänden — Geld und Politik. — Es sind alberne dumme Jungen, mein Lieber, mit denen man unmöglich über etwas reden kann, was uns am Herzen liegt. Ihr Geist hat einen Bodensatz von Schlamm oder besser gesagt von Mist, wie die Seine bei Asnieres. Es ist weiß Gott schwer, einen Menschen mit weitem Geist zu finden, bei dem uns wie am Meer das Empfinden von etwas Großem und Gewaltigem überkommt. Ich kannte ein paar solcher Menschen, jetzt aber sind sie tot.«
Norbert de Varenne sprach mit klarer aber gedämpfter Stimme, die laut durch die Nacht tönen müsste, wenn er nicht so innerlich und zurückhaltend gesprochen hätte. Er schien überreizt und traurig zu sein; er war erfüllt von jener Schwermut, die die Seelen befällt und sie zittern lässt wie der Frost die Erde. Er fuhr fort:
»Was hat das übrigens zu sagen, ob einer ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Genie hat, zuletzt kommt ja doch das Ende.«
Er schwieg. Duroy, der sich innerlich froh und heiter fühlte, sagte lächelnd:
»Sie sehen heute zu schwarz, verehrtester Meister.«
»Das tu ich stets, mein Junge,« erwiderte der Dichter, »und in ein paar Jahren werden Sie es auch tun. Das Leben ist ein Berg; solange man hinaufsteigt, sieht man den Gipfel und fühlt sich glücklich. Ist man aber oben, dann erblickt man mit einmal den Abgrund und das Ende, nämlich den Tod. Bergauf geht es langsam, doch bergab schnell. In Ihrem Alter ist man fröhlich. Man erhofft so vieles, was übrigens nie eintritt. In meinen Jahren erwartet man nichts mehr… als den Tod.«
Duroy begann zu lachen:
»Verdammt! Mir wird es gruselig, wenn ich Sie höre.«
»Nein,« fuhr Norbert de Varenne fort, »Sie verstehen mich heute nicht. Aber später mal werden Sie sich dessen erinnern, was ich Ihnen jetzt sage. Es kommt ein Tag — und er kommt viel zu früh —, wo man nicht mehr lachen kann, weil hinter allem, was man sieht, der Tod steht!
Oh! Sie verstehen nicht mal dieses Wort: der Tod! In Ihrem Alter bedeutet das nichts — in meinem ist es schrecklich. Ja, auf einmal da versteht man es, man weiß nicht woher und man weiß nicht warum, und plötzlich bekommt das Leben ein anderes Gesicht. Ich fühle es schon seit fünfzehn Jahren, wie er an mir zehrt, als ob ich ein Nagetier im Busen trüge. Ich merke, wie er mich nach und nach, Monat für Monat, Stunde für Stunde, zerstört, wie ein altes Haus, das dem Einsturz nahe ist. Er hat mich so völlig entstellt, dass ich mich nicht mehr wiedererkenne. In mir ist nichts mehr von mir selbst, von dem frischen, starken, strahlenden Manne, der ich mit dreißig Jahren war, übriggeblieben. Ich sah, wie er meine schwarzen Haare weiß färbte, allmählich, mit einer hinterlistigen und heimtückischen Langsamkeit. Er nahm mir meine straffe Haut, meine Muskeln, meine Zähne, meinen ganzen Körper und ließ mir nur eine verzweifelte Seele, die ihm auch wohl bald zum Opfer fallen wird.
Er hat mich zermalmt, der Schuft, Sekunde für Sekunde, langsam und allmählich hat er sein furchtbares Zerstörungswerk an meinem Wesen vollbracht, und jetzt fühle ich den Tod in allem, was ich tue. Jeder Schritt bringt mich ihm näher, jede Bewegung, jeder Atemzug beschleunigt seine entsetzliche Arbeit. Atmen, Schlafen, Essen, Trinken, Arbeiten, Denken, alles, was wir tun, ist im Grunde Sterben. Das ganze Leben ist Sterben l
Oh! Sie werden es auch erfahren; Sie brauchen nur eine Viertelstunde darüber nachzudenken, es wird Ihnen auch klar sein.
Was erhoffen Sie von der Liebe? Noch ein paar Küsse … und Sie sind impotent.
Und weiter was? Geld? Wozu? Um Weiber zu bezahlen? Ein hübsches Glück! Um viel essen zu können, dick zu werden und Nächte hindurch vor Schmerzen und Qualen der Gicht