Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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Er ging langsam vor sich hin, etwas außer Atem; er träumte laut und vergaß fast, dass ihm jemand zuhörte.
»Und nie,« fuhr er fort, »nie kehrt ein Menschenwesen wieder. Niemals … Man bewahrt die Form, in der man eine Bronzestatue gießt, jeder Stempel liefert immer wieder den gleichen Abdruck, aber mein Körper, mein Geist, meine Seele, meine Wünsche werden nie wiederkehren. Und doch werden Millionen und Milliarden Menschen geboren, die auf ein paar Quadratzentimeter eine Nase, Augen, eine Stirn, Backen und einen Mund haben wie ich und auch eine Seele wie ich, aber ich selbst kehre niemals wieder, ja nicht einmal irgendein erkennbarer Teil von mir taucht wieder auf unter diesen unzählbaren Wesen, die unbegrenzt verschieden sind, trotzdem sie sich alle fast gleichen.
An wen sich halten? An wen unsere Schmerzensrufe richten? An wen soll man glauben? Alle Religionen sind stumpfsinnig mit ihrer dummen Kindermoral und egoistischen Verheißungen, die so grenzenlos töricht sind. Der Tod allein ist uns gewiss.«
Er blieb stehen, fasste Duroy mit beiden Händen an den Rändern seines Paletotkragens und fuhr mit langsamer Stimme fort:
»Denken Sie darüber nach, junger Mann, denken Sie darüber tage-, monate- und jahrelang nach und Sie werden eine ganz andere Anschauung vom Leben und Dasein gewinnen. Versuchen Sie also alles abzuschütteln, was Sie umgibt; machen Sie die übermenschlichsten Anstrengungen, um bei lebendigem Leibe sich aus Ihrer Haut, Ihren Interessen, Ihren Gedanken, aus der gesamten Menschheit loszulösen und über all das hinauszublicken, und Sie werden begreifen, wie gleichgültig und belanglos der Streit zwischen Naturalisten und Romantikern, sowie die ganzen Etatsdebatten sind.«
Er beschleunigte seinen Schritt:
»Aber dann werden Sie auch die furchtbare Trübsal der Hoffnungslosen empfinden. Verlassen und verloren werden Sie im Ungewissen sich abquälen. Sie werden, nach allen Seiten um Hilfe rufen und niemand wird Ihnen, antworten. Sie werden die Arme emporstrecken, Sie werden flehen, dass man Ihnen hilft, Sie liebt, tröstet, rettet, und es wird niemand kommen.
Und warum müssen wir so leiden? Gewiss, wir sind mehr zum körperlichen als zum geistigen Leben geboren; aber durch unser Denken ist ein Missverhältnis entstanden zwischen unserer wachsenden Erkenntnis und den unveränderlichen Lebensbedingungen.
Sehen Sie sich die beschränkten Menschen an. Wenn sie nicht zufällig schwere Schicksalsschläge treffen, sind sie zufrieden und leiden nicht unter dem allgemeinen Unglück. Auch die Tiere haben kein Empfinden dafür.«
Nochmals blieb er stehen und sann eine kurze Weile nach. Dann sagte er mit minder resignierter Stimme:
»Ich bin ein verlorenes Geschöpf; ich habe weder Vater noch Mutter, noch Bruder, noch Schwester, noch Weib, noch einen Gott.«
Nach einer Pause fügte er hinzu:
»Ich habe nur den Reim.«
Und er hob den Kopf zum Firmament, an dem das bleiche Vollmondantlitz leuchtete und deklamierte:
»Vergeblich such’ ich dieses Rätsels Schlüssel
am bleichen Mond, am weiten Sternenhimmel.«
Sie kamen zur Pont de la Concorde, schweigend schritten sie über die Brücke und gingen am Palais Bourbon entlang. Norbert de Varenne begann von Neuem:
»Heiraten Sie, lieber Freund, denn Sie wissen nicht, was es in meinem Alter heißt, allein zu sein. Heute erfüllt mich die Einsamkeit mit einer entsetzlichen Angst, die Einsamkeit in der Wohnung, wenn ich abends am Feuer sitze. Dann scheint es mir immer, als wäre ich allein auf der Welt, umgeben von dunklen Gefahren und allerlei unbekannten, schrecklichen Dingen; und die Wand, die mich von meinem unbekannten Nachbar trennt, entfernt mich von ihm so weit wie die Sterne, die ich durch das Fenster sehe. Mich überfällt dann eine Art Fieberwahn, der Fieberwahn der Furcht und des Schmerzes, und das Schweigen der Wände entsetzt mich. Es ist so tief und so traurig, das Schweigen in dem Zimmer, in welchem man ganz allein lebt. Es umfängt nicht bloß den Körper, sondern auch die Seele, und wenn ein Stück Möbel kracht, erbebt einem das Herz, denn man erwartet kein Geräusch in dieser trüben Behausung.«
Nach einer Pause setzte er hinzu:
»Wenn man alt ist, muss es doch schön sein, Kinder zu haben!«
Sie waren in der Mitte der Rue Bourgogne angelangt. Vor einem hohen Hause blieb der Dichter stehen, klingelte, schüttelte Duroy die Hand und sagte:
»Vergessen Sie das unnütze Geschwätz des Alten, junger Freund, und leben Sie, wie es Ihrem Alter gebührt! Adieu!«
Und er verschwand in dem finsteren Flur.
Duroy ging mit beklommenem Herzen weiter. Ihm war, als hätte man ihm eine Grube voll menschlicher Knochen und Schädel gezeigt, und in diese Grube musste auch er eines Tages unweigerlich stürzen.
Er murmelte:
»Donnerwetter! Sehr lustig muss es da oben bei ihm nicht sein! Ich würde es lieber vorziehen, beim Vorbeimarsch seiner Gedanken nicht anwesend zu sein. Weiß Gott! Nein!«
Er war stehengeblieben, um eine stark parfümierte Dame vorbei zu lassen, die aus dem Wagen stieg und in ihr Haus ging; mit vollen Zügen atmete er den Duft der Verbenen und Iris ein, der sich in der Luft verflüchtigte. Plötzlich klopfte sein Herz wieder laut vor freudiger Hoffnung, und die Erinnerung an Madame de Marelle, die er morgen wiedersehen sollte, erfüllte ihn von Kopf bis zu Fuß. Alles lächelte ihm zu und das Leben nahm ihn zärtlich in seine Arme. Wie schön war es, seine Hoffnungen verwirklicht zu sehen!
Wie in einem Rausch schlief er ein und erhob sich ziemlich früh, um noch einen Spaziergang in der Avenue du Bois de Boulogne zu machen, ehe er zum Rendezvous ging.
Der Wind hatte sich über Nacht gedreht, es war milder geworden, sodass man sich fast im April glauben konnte. Alle ständigen Besucher des Bois waren unterwegs; sie waren dem Lockrufe des