Heideopfer. Kathrin Hanke
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Zu Hause, bei Jana, war es nicht ganz so schlimm. Sein Therapeut meinte, das läge daran, weil er sich von Jana so angenommen fühlte, wie er war, denn schließlich hätte sein Unfall nicht seinen Charakter verändert. Tobi war sich da allerdings nicht sicher. Natürlich, anderen außer Jana gegenüber hatte er immer schon den Kasper gespielt. Na ja, am Anfang ihrer Beziehung ebenfalls vor Jana, und gespielt war auch irgendwie nicht richtig. Er hatte einfach stets das Glas mindestens halb voll gesehen und war grundsätzlich gut drauf gewesen. Der Unfall hatte das geändert. Seitdem hatte er sich mit Anflügen von Depressionen herumzuschlagen. Das war auch der Grund, weswegen er bereits jetzt schon in den Beruf zurückgekehrt war. Die Ärzte hätten ihn auch weiterhin lieber daheim gelassen oder gar berufsunfähig geschrieben. Doch das hatte er absolut nicht gewollt. Zu Hause fiel ihm die Decke auf den Kopf, zumal Jana voll arbeitete, seit er nicht mehr so pflegebedürftig war. Natürlich war da seine süße Mia. Seine Tochter war letzten Monat fünf Jahre alt geworden, aber sie wirkte schon sehr viel älter und reifer. Das war kein Wunder, nach dem, was sie in ihren ersten Lebensjahren zusammen mit ihrer Mutter seinetwegen hatte durchstehen müssen. Mia ging jedoch in den Kindergarten, und so hatte er sich größtenteils allein die Zeit vertreiben müssen – inzwischen hatte er wohl alle Serien, die es auf Netflix & Co gab, durchgeguckt – bis er seine Tochter um 15:30 Uhr wieder abholte. Das würde er auch weiterhin tun, da er vorerst nur in Teilzeit im Kommissariat arbeiten würde.
Eben am Besprechungstisch hatten sie noch einmal darüber gesprochen. Er und Vivien würden sich den Innendienst aufteilen – wobei sie ihm zuarbeiten sollte. Und wenn Katharina im Urlaub oder krank war, sollte Tobi sie vertreten. Das hatte Ben ihnen allen vorhin bei Franzbrötchen und Kaffee so verkündet. Tobi war das unangenehm. Er wusste, dass Vivien während seiner Abwesenheit den Innendienst allein geschmissen hatte und auch manchmal mit draußen gewesen war. Für sie bedeutete die neue Regelung durch seinen Wiedereinstieg eine Degradierung. Ihm war bewusst, dass Ben so entschieden hatte, um ihm zu zeigen, wie wichtig er ihm war. Trotzdem tat Tobi die Kollegin irgendwie leid. Er kannte sie nicht gut, da sie vor seinem Unfall nur hin und wieder in ihrem Kommissariat ausgeholfen hatte. Erst als klar war, dass Tobi für längere Zeit ausfallen würde, hatte Kriminalrat Mausner – wohl auch auf Viviens Wunsch hin, wie Katharina mal hatte durchblicken lassen – ihrem offiziellen Wechsel von der Sitte hin zum Morddezernat zugestimmt.
Tobi schaute von seinem Platz aus zu ihr hinüber. Sie saß ebenfalls an ihrem Schreibtisch und schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben, denn wie er tat auch sie nichts und sah ihn an. Für einen Moment herrschte Stille, dann fragte sie: »Und, wie fühlt es sich an, wieder hier zu sein?«
»Weiß noch nicht«, gab er ehrlich zu. »Irgendwie vertraut und dann doch wieder nicht.«
»Hm«, machte Vivien, und er merkte mehr an ihrer Körperhaltung als an ihrem »hm«, dass auch für sie die Situation mit ihm im Büro komisch war.
»Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln, oder?«, meinte er entgegenkommend und setzte noch ein »gemeinsam« hinzu.
»Das hoffe ich«, erwiderte Vivien, aber es klang nicht zickig, sondern eher frustriert.
»Wie meinst du das?«, fragte er nach und stellte eine Vermutung an: »Hast du Angst um deinen Platz hier?«
»Na ja«, sagte sie langsam. Dann gab sie zu: »Etwas schon. Immerhin bist du jetzt wieder da, und ich habe dich nur so lange ersetzt, bis du wieder arbeiten kannst. Das wurde mir von Anfang an gesagt.«
Tobi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, dann sagte er bedächtig: »Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst. Also ich mache dir auf keinen Fall deinen Platz hier im Team streitig. Außerdem waren wir schon zu meiner Zeit immer zu wenige. Das wirst du sicher in den letzten Jahren gemerkt haben und schon davor. Nicht umsonst haben wir uns dich damals aus deinem Ex-Kommissariat ausgeliehen. … Okay, ich weiß auch, dass Ben lieber ein kleines festes Team hat. Das war schon immer so. Obwohl das ja nicht gerade üblich ist, aber irgendwie hat er damals, als er die Leitung vom Morddezernat übernommen hat, unseren Kriminalrat überzeugen können. Außerdem ist Ben der fairste Typ, den ich kenne. Wenn er dich nicht mehr im Team haben wollen würde, hätte er es dir in dem Moment gesagt, als klar war, dass ich wiederkomme. Und mal so ganz nebenbei: Du hast dich doch hier ganz gut bewährt, soweit ich weiß …«
»Hat Ben das gesagt?«, wollte Vivien, mit einem Mal nicht mehr ganz so mutlos, wissen.
»Ja, der auch, aber eher Katharina.«
»Katharina?«, war die junge Kommissarin überrascht.
Tobi nickte: »Sie scheint große Stücke auf dich zu halten. Schon allein deshalb würde Ben dich nicht vor unsere Kommissariatstür setzen. Er vertraut Katharina sehr.«
»Das hätte ich nicht gedacht«, meinte Vivien gedankenvoll.
»Dass Ben auf Katharinas Urteil hört?«
»Nein, dass sie … dass sie mich, also meine Arbeit, schätzt.«
»Echt nicht«, wunderte Tobi sich laut. Gestand dann jedoch ein: »Okay, Katharina ist nicht gerade jemand, der mit Lob um sich schmeißt, aber doch, sie hat es mir gegenüber ein paar Mal erwähnt.«
Plötzlich wirkte Viviens Gesicht viel entspannter als zuvor und auch etwas glücklicher, wenn er sich nicht täuschte und der Kommissar beschloss, das Thema nun ruhen zu lassen. Mit den Worten: »So, und jetzt lass mal etwas arbeiten, du weißt ja, um 15 Uhr ist hier Abflug für mich und bis dahin sollten wir was geschafft haben«, schaltete er seinen Computer an, und als der Bildschirm daraufhin den blauen Desktop zeigte, spürte auch Tobi so etwas wie Glück. Mannomann, was hatte er seine Arbeit vermisst.
Vivien tat es ihm gleich, merkte jedoch an: »In den letzten Tagen war es relativ ruhig. Ich hatte sogar Zeit, alle Protokolle zu schreiben, die anlagen, deswegen haben wir eigentlich momentan nichts zu tun.«
»Dann sollten wir uns darauf vorbereiten, was Ben und Katharina vielleicht nachher für uns haben, und selbst, wenn es kein Fall ist, vertreiben wir uns dadurch die Zeit mit Sinnvollem«, antwortete er voll Elan, denn ihm war ein Gedanke gekommen.
»Und wie?«, fragte Vivien.
»Du fragst jetzt mal bei Katharina an, wo genau die im Wilschenbruch sind, um dann zu recherchieren, wer dort wann alles gelebt hat, und ich suche mir mal eine alte Akte raus.«
»Okay, mach ich. Aber in was für eine Akte willst du gucken?«
»Wenn ich mich recht entsinne, wurde vor ein paar Jahren ein Totenschädel in der Ilmenau gefunden. Wer weiß, vielleicht gehören die Handknochen dazu.«
Gedicht
»Dass wir erschraken, da du starbst, nein,
dass dein starker Tod uns dunkel unterbrach,
das Bisdahin abreißend vom Seither:
das