Heideopfer. Kathrin Hanke
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(aus Requiem für Paula Modersohn-Becker, Rainer Maria Rilke)
Kapitel 2
Montag, 09.03.2020 –
Vormittag bis zum Abend
10:36 Uhr
Kurz nachdem Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder in den Dienstwagen eingestiegen waren, war der Kommissarin eingefallen, dass die Rechtsmedizinerin Frauke Bostel sicher auch nach Wilschenbruch gerufen worden war. Die beiden Frauen waren befreundet, von daher wusste sie, dass Frauke Bostel derzeit in ihrer Mobilität eingeschränkt war – die Rechtsmedizinerin hatte sich beim Skilaufen den Meniskus verletzt und einen Kreuzbandriss zugezogen. Sie war zwar schon vor einiger Zeit operiert worden, war aber noch nicht soweit wieder hergestellt, dass sie Fahrrad oder wenigstens Auto fahren konnte, zumal dies keine Automatik besaß. Natürlich würde Frauke sich ein Taxi rufen können, dennoch hatte Katharina ihrer Freundin und Kollegin kurzerhand eine Nachricht geschickt und gefragt, ob Ben und sie sie einsammeln sollten. Eben gerade hatte Frauke ihr mit einem »Daumen hoch« geantwortet.
»Ben, machst du bitte noch einen Schlenker zur Rechtsmedizin«, bat Katharina deshalb nun ihren Chef, der am Steuer saß.
»Um Frauke abzuholen?«
»Du hast eine hervorragende Kombinationsgabe, dein Beruf passt perfekt zu dir«, lachte Katharina auf.
Auch Ben grinste. Er fragte: »Wie lange ist sie denn noch lahmgelegt?«
»Keine Ahnung, sicherlich noch ein paar Wochen. Sie kann ihr Knie noch nicht richtig anwinkeln.«
»Gehst du jetzt immer alleine zum Sport?« Es war allgemein bekannt, dass die beiden Kolleginnen zusammen diverse Kurse in einem Fitnessklub besuchten. Unlängst hatten sie ihn sogar gewechselt und waren jetzt im Olympic Fitness. Das Olympic, wie es die Lüneburger kurz nannten, lag zwar nicht so zentral in der Stadt wie ihr vorheriger Klub, dafür bot er eine enorm große Auswahl an Kursen, war ziemlich modern und dabei vor allem günstig. Gerade neulich hatte Katharina lachend zu ihrem Freund Bene gesagt: »Falls ich mir meine Wasserrechnung nicht mehr leisten kann, dann gehe ich jeden Tag einfach im Olympic duschen. Da ist das Wasser im Mitgliedspreis inbegriffen.«
»Ich war in der letzten Zeit nur ein paar Mal im Klub. Ohne Frauke macht das dort nur halb so viel Spaß. Dafür jogge ich jetzt wieder regelmäßig. Am Wochenende übrigens auch gern mal im Wilschenbruch«, sagte sie jetzt zu Ben und musterte ihn von der Seite. Er war Bene wie aus dem Gesicht geschnitten, was kein Wunder war, da die beiden eineiige Zwillinge waren.
»Oh, dann sag mal Bescheid, ich wollte auch wieder mit Joggen anfangen, ich habe meine Fitness in der letzten Zeit etwas vernachlässigt«, meinte nun Ben, der gerade bei der Rechtsmedizin vorfuhr, wo Frauke bereits auf sie wartete, sodass Katharina einer Antwort entbunden wurde. Dass ihr Kollege seit einigen Monaten nichts für seinen Körper getan hatte, war unübersehbar – sein Bauchansatz sprach da Bände, und gerade neulich hatte Katharina gedacht, dass er im Gegensatz zu früher recht grau im Gesicht war. Joggen täte ihm also sicher gut, und sie hatte im Grunde nichts dagegen, mit ihm gemeinsam zu joggen. Allerdings fragte sie sich, wie Bene darauf reagieren würde, der wegen seines Rückens nicht joggte und seit einiger Zeit nicht besonders gut auf seinen Zwillingsbruder zu sprechen war, zumindest nicht im Zusammenhang mit Katharina. Bene zeigte plötzlich heftige Anwandlungen von Eifersucht gegenüber Ben und glaubte, sein Bruder hätte ein Auge auf sie geworfen. Auf die Frage, wie er auf so eine an den Haaren herbeigezogene Idee käme, hatte er Katharina vor ein paar Wochen geantwortet, dass er es ziemlich verdächtig fände, dass Ben keine feste Freundin mehr gehabt hatte, seit er mit Katharina zusammenarbeitete, was immerhin schon ein paar Jahre mehr der Fall war. »Außerdem guckt er dich immer heimlich an, wenn er denkt, das bekäme keiner mit. Und er fragt dich ständig, ob ihr nach dem Job noch was trinken gehen wollt, obwohl ihr schon den ganzen Tag zusammen rumhängt.« Katharina hatte ihren Freund für verrückt erklärt und sie hatten sich etwas gezofft. Dennoch hatten Benes Worte sie ins Grübeln gebracht. Es hatte nämlich tatsächlich eine Zeit gegeben, da hatte sie gedacht, dass Benjamin Rehder mehr in ihr sah als nur seine Teampartnerin. Und auch sie hatte sich damals, doch das war Jahre her, zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl sie bereits mit Bene zusammen war. Nicht, weil die beiden Brüder sich so ähnlich sahen, obwohl das sicherlich mitgeschwungen hatte. Nein, es war etwas anderes gewesen. Es war schlicht und ergreifend Bens verbindliche, aufrichtige und altruistische Art, die wiederum so anders war als die von Bene, der deutlich selbstbezogener durch die Gegend ging und mit Menschen umsprang. Da machte er bei ihr keine Ausnahme.
Wenn Katharina ehrlich zu sich war, dann war das Gefühl des Hingezogenseins zu Ben bis heute nicht ganz verschwunden, sie verbot es sich lediglich selbst. Er war ihr Chef und dann auch noch der Bruder ihres Lebensgefährten – eine tiefere Empfindung als Freundschaft war da einfach nicht angebracht. Basta. Deswegen wollte sie auch gar nicht daran denken, wie Ben möglicherweise zu ihr stand. Und das hatte sie bisher auch mehr oder minder erfolgreich geschafft – bis zu diesem Tag, an dem Bene ihr seine Vermutung präsentiert hatte. Seitdem fragte sie sich jedes Mal, ob mehr dahintersteckte, wenn Ben privat Zeit mit ihr verbringen wollte. Selbst, wenn es nur eine gemeinsame Mittagpause war. Das war ziemlich blöd, denn es hemmte sie, locker mit ihm umzugehen.
Und jetzt hatte er eine gemeinsame Laufrunde vorgeschlagen. So ein Mist aber auch, denn Lust dazu hätte sie schon. Sie lief gern zu zweit. Na ja, sie konnte ja noch einmal darüber nachdenken, jetzt stieg Frauke erst einmal ein …
Sie fuhren über die Amselbrücke, die über die Ilmenau und deren Auen nach Wilschenbruch führte und diesen Stadtteil vom Trubel der lebhaften Hansestadt trennte. Kurz darauf bogen sie auch schon in den Spechtsweg ein und hielten vor dem Grundstück, auf dem die skelettierte Hand entdeckt worden war. Eben hatte Vivien angerufen und nach der Adresse gefragt. Die Kollegin wollte diese haben, damit sie und Tobi schon einmal parallel recherchieren konnten. Was genau hatte Vivien nicht gesagt und Katharina fragte sich, was in diesem Stadium eine Recherche möglich machen sollte, aber sie würde sich überraschen lassen.
Als Ben, Frauke und sie nun ausstiegen, trat ihnen ein uniformierter Kollege entgegen, der auf dem Fußweg vor dem Grundstück anscheinend bereits auf sie gewartet hatte. Der Polizist, den Katharina vom Sehen kannte, grüßte die beiden Frauen und wendete sich dann an Ben: »Kommissar Rehder? Polizeimeister Gehrcken. Sie wissen Bescheid?«
»Nicht im Detail, aber wenn sie die gefundene Hand meinen, dann schon«, antwortete Ben, worauf der Polizeimeister beflissen fortfuhr: »Der Fundort ist da hinten am Ende des Gartens. Hinter dem zum Teil bereits abgetragenen Haupthaus. Wir haben ihn schon großzügig abgesperrt, und wie es scheint, ist auch noch nichts durch die durchgeführten Arbeiten … ähm … zerstört worden. Also die Hand, meine ich. Die sieht noch ziemlich intakt aus, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Ist die Spurensicherung informiert?«, fragte Benjamin Rehder.
»Die Spurensicherung?«, fragte der noch recht jung aussehende Uniformierte zurück und lief dabei rot an, was ihn noch jünger erscheinen ließ. »Nein, die … ähm, mein Kollege und ich dachten, das ist nicht notwendig, weil das doch … also, weil das ein …«
»… alter Knochen ist, der gefunden wurde?«, schaltete sich jetzt die Rechtsmedizinerin ein.
»Ja, genau, darum haben wir nur die Rechtsmedizin informiert. Sind Sie Doktor Bostel?«, nickte Gehrcken.
»Ja, bin ich. Moin. Die Spurensicherung muss dennoch kommen. Sie hätten Sie als Erste informieren müssen. So, wie immer«, erklärte Frauke Bostel. »Keiner weiß, wie schnell die Verwesung hier vonstattengegangen ist. Es kann ziemlich lange her sein, muss aber