Die Messermacher. Petra Mehnert

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Die Messermacher - Petra Mehnert

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der Kiss ist ein richtig hübscher Goldjunge, das muss man schon sagen“, meinte Marianne süffisant und fügte noch hinzu: „Leider nicht meine Altersklasse … obwohl … so einen jungen hatte ich noch nicht!“

      „Marianne!“, riefen ihre Geschwister im Chor, doch diese winkte nur lässig lächelnd ab.

      „War doch nur Spaß, ihr alten Spielverderber. Der ist doch im Dienst und wir sind außerdem Verdächtige – da dürfte er sowieso nichts mit mir anfangen“.

      Daran hatte Nora noch gar nicht gedacht – dass sie ja alle zu dem Kreis der Verdächtigen zählten. Es wäre doch möglich, dass die Beamten auf die Idee kämen, dass ihre Familie mit dem Verschwinden von Reno etwas zu tun haben könnte. Ein sehr beunruhigender Gedanke! Dass der junge Herr Kiss in ihrer Liga spielte und sie für ihn interessant sein könnte, daran verschwendete sie momentan keinen einzigen Gedanken. Sie wollte nur endlich wissen, was mit ihrem Opa geschehen war. Ihm durfte nichts passiert sein!

      Warum meldete er sich denn nicht?

      Vielleicht musste sie nur ganz fest an ihn denken – das hatte doch schon oft geklappt zwischen ihnen beiden. Eigentlich glaubte sie ja nicht an Telepathie, doch bei ihr und ihrem Großvater hatte das wirklich schon einige Male funktioniert.

      „Ich geh mal kurz raus in die Sonne. Wie lange machen wir noch Mittagspause? Arbeiten wir heute überhaupt noch?“, wollte das Mädchen wissen und schnappte sich ihre moderne, großrandige Sonnenbrille.

      „Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren. Das lenkt ab und wir haben doch so viele Aufträge, die termingerecht erledigt werden sollten. Noch ne halbe Stunde, dann gehen wir wieder an die Arbeit“, entschied Jakob, der sich als Ältester nun berufen fühlte, Entscheidungen zu treffen. Marianne und Tobias schauten sich zwar seufzend an, doch im Moment wollten sie ihrem Bruder auch nicht widersprechen. Er hatte ja in allen Punkten Recht – so würde die Wartezeit, bis Reno sich endlich melden würde, schneller vorübergehen. Dass er sich melden würde, war irgendwie allen klar. Einen anderen Gedanken ließen sie gar nicht zu.

      Der schlacksige Felix, bei dem alles etwas blasser als bei seiner Schwester war – hellere Haut, hellere rotblonde Haare und hellere grüne Augen, war Nora in den Garten gefolgt. Doch als er sich zu ihr setzen wollte, wimmelte sie ihn unfreundlich ab, was eigentlich gar nicht ihre Art war. Beleidigt zog der Junge wieder ab, doch er wollte seiner Schwester nicht lange grollen, denn in dieser Ausnahmesituation reagierten alle nicht so wie gewohnt. Er selbst war ja normalerweise auch nicht so anhänglich, doch heute wäre er Nora am liebsten überallhin gefolgt. Wenn seine Mutter nicht da war, hielt er sich meistens an Nora. Mit seinem Vater zu kuscheln fand er dann doch etwas abwegig, ebenso wollte er sich nicht an Tobias oder Marianne hängen. Er mochte die zwei zwar sehr gerne, doch körperliche Nähe hatte er nur als Kleinkind zugelassen. Jetzt war er dafür doch schon zu alt, nur seine Mutter durfte ihn noch in den Arm nehmen und zu einer abendlichen Rückenmassage sagte er auch selten nein. Wenn er an Delfina mit ihrem weichen Körper und den immer nach Kokos duftenden Haaren dachte, überfiel ihn eine fast körperlich schmerzende Sehnsucht nach seiner Mutter. Nur noch zwei Tage, dann konnte er sie wieder in die Arme nehmen und sich von ihr trösten lassen (wenn es niemand sah!).

      Nora unterdessen hatte sich in die Hollywood-Schaukel gesetzt, ließ sich hin und her wiegen und dachte mit allen Fasern ihres Körpers an ihren Opa. Immer wieder murmelte sie: „Opa, bitte ruf an … bitte melde dich … Opa bitte!“ Eine halbe Stunde lang, bis ihr Vater zur Arbeit rief, hatte sie vor sich hingemurmelt und gerade, als sie resigniert und traurig aufstand, um ins Haus zu gehen, läutete das Telefon.

      8

      Während der Befragungen im Hause Angerer war Reno in sein Campinghäuschen gegangen und hatte sich ins Bett gelegt. Obwohl er total erschöpft war und sich seine Gedanken weiterhin im Kreis drehten, hatte er zunächst nicht einschlafen können. Der blöde Köter von nebenan hatte auch immer mal wieder gebellt und so hatte es eine Weile gedauert, bis sich der erlösende Schlaf endlich eingestellt hatte.

      Unruhig warf der alte Mann sich im Schlaf nun hin und her – es war nicht verwunderlich, dass er nach den nächtlichen Erlebnissen von Albträumen geplagt wurde. So wachte er nach zwei Stunden auch völlig schweißgebadet auf und wusste zunächst nicht, wo er sich befand. Erst als er Amigo, diesen ollen Kläffer, vom Nachbarhaus her bellen hörte, erinnerte er sich wieder. Doch was hatte er da gerade geträumt? Konnte es wirklich so gewesen sein, dass jemand anderes im Haus gewesen war und Adele mit einem Kissen erstickt hatte? In seinem Traum hatte er so etwas gesehen, aber nicht, wer es gewesen war. Wie konnte er das herausfinden? War es wirklich so gewesen oder hatte er einfach nur irgendetwas geträumt? Und wer spukte nun noch in seinem Kopf umher? Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren und allmählich wurde ihm immer klarer, wer ihn da mit der Macht ihrer Gedanken rief: Nora! Das arme Kind musste ja total verstört sein! Wie hatte er nur so egoistisch sein können? Womöglich hatten sie oder ihr Bruder die tote Adele gefunden. Oh mein Gott, meine armen Enkel! Das konnte er nie mehr gutmachen! Was würden sie nur von ihm denken, dass er sie so im Stich gelassen hatte? Dass sie in ihm den Mörder seiner Frau sehen könnten, darauf verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Er musste sich melden, und zwar sofort! Aber wie anfangen? Was sagen und wie erklären, warum er einfach abgehauen war? Er brauchte zuerst einen Kaffee! Doch er hatte noch gar nichts eingekauft. Ob er wohl seine neue Bekannte, diese Helene danach fragen sollte? Oder doch zuerst anrufen, um seine Lieben zu Hause nicht noch länger im Ungewissen zu lassen?

      Als er sich jedoch dazu durchgerungen hatte, um wieder in Schwung zu kommen, einen Kaffee zu trinken, erledigte sich die Sache von selbst. Denn Helene bog mit ihrem Hollandrad und ihrem Hund an der Seite gerade um die nächste Ecke und war verschwunden. Also doch kein Kaffee, sondern gleich der Anruf. Doch daraus wurde auch nichts, denn der Akku seines uralten Handys war leer. Sein neues Smartphone hatte er jemand anderem gegeben, aber warum eigentlich? Auch das konnte er sich momentan überhaupt nicht erklären. Sein Gedächtnis spielte ihm in dieser Sache wirklich einen üblen Streich!

      Nun hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder Handy aufladen und warten (aber hatte er das Ladegerät denn in seiner blinden Flucht mitgenommen?) oder irgendwo von einem öffentlichen Fernsprecher aus anrufen? Vielleicht wurde ja schon nach ihm gefahndet und es wäre sicherer, nicht mit dem Handy zu telefonieren? Da fiel ihm ein, dass seine Familie ja noch gar nicht wusste, dass er das Smartphone nicht mehr hatte. Seine Familie rief ihn so gut wie nie auf diesem neuen Gerät an, weil er es sowieso nicht zuverlässig dabei hatte. Deshalb hatte er gar nicht weiter darüber nachgedacht, als er seinem Bekannten sein Telefon gegeben hatte. Wenn er an ihn dachte, wurde ihm sofort wieder schlecht. Was hatte er sich bei der ganzen Aktion eigentlich gedacht? Seine Veranlagung hatte ihn in die unmöglichste Situation gebracht, in die man überhaupt kommen konnte – wie sollte er aus diesem Schlamassel jemals wieder rauskommen?

      Doch bei dem Gedanken an seine sicher total verängstigten Enkelkinder gab sich Reno dann doch einen Ruck und trat den langen Weg ins Dorf zu Fuß an. So hatte er Zeit, sich genau zu überlegen, was er sagen wollte. Die Sonne stand jetzt im Juni zur Mittagszeit strahlend am Himmel und schnell wurde dem gebeugt dahinschlurfenden Mann heiß. Als er nachts aufgebrochen war, war es noch empfindlich kalt gewesen und er hatte ein Sweatshirt angezogen. Das war ihm jetzt deutlich zu warm, aber er hatte kein T-Shirt oder ein kurzärmliges Hemd dabei. Wenn er genauer darüber nachdachte – er hatte überhaupt nichts dabei. Keine Klamotten zum Wechseln, keine Zahnbürste, weder Rasierzeug noch Handtuch. Mechanisch griff er in seine Hosentasche und atmete hörbar auf – wenigstens seinen immer gut gefüllten Geldbeutel mit allen wichtigen Kreditkarten hatte er mitgenommen. Welch ein Glück, dass er daran gedacht hatte. Der Griff zur Geldbörse war anscheinend tief in ihm verwurzelt, denn sogar zum Gassi gehen mit dem Hund hatte er stets seine Börse dabei. Man konnte ja nie wissen …

      Diese Angewohnheit verhalf ihm nun dazu, sich in dem kleinen Ort mit dem

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