WattenAngst. Andreas Schmidt
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„Dann überhol mich, du Arschloch!“, zischte er wütend und ließ den Wagen am rechten Fahrbahnrand weiterrollen. Es war, als hätte ihn der nervige Typ gehört, denn obwohl sich von vorn ein mächtiger Sattelzug näherte, setzte der Passatfahrer zu einem waghalsigen Überholmanöver an. Der Lkw-Fahrer von vorn blendete die Scheinwerfer auf und hupte. Das Quietschen der Bremsen überlagerte das Hupkonzert, dann war der Spuk vorüber.
Im Augenwinkel konnte er noch sehen, wie der Lastwagenfahrer wild gestikulierte und ihm den Scheibenwischer zeigte, dann war er schon vorbei.
Er atmete tief durch und sah, wie sich der Passat Variant in waghalsigem Tempo entfernte. Es war noch einmal gut gegangen. Jetzt wurde er sich darüber klar, dass ein Unfall, in den er, egal ob verschuldet oder unverschuldet, geriet, das Aus bedeuten würde. Doch es war noch lange nicht aus, denn jetzt würde er seine Mission fortsetzen. Davon konnte ihn auch der Typ in der Vertreterkarre von eben nicht abhalten. Gut so.
Es dauerte ein paar Kilometer, bis sich sein Puls normalisiert hatte und er das Lied, das aus den Lautsprechern des Radios an seine Ohren drang, laut mitsang. Die Welt war in Ordnung, und bis er die Küste erreicht hatte, würde auch der Tank seiner Erfindung leergesickert sein. Ja, er war ein Genie.
*
Husum, Lundweg
Das Apartment von Kerstin Möller war modern eingerichtet und sehr sauber. Auf wenigen Quadratmetern hatte sich die junge Frau ein kleines, gemütliches Nest unter dem Dach eingerichtet. In der aufgeräumten Küche befand sich nur eine einzige benutzte Teetasse in der Spüle.
Im Schlafzimmer gab es einen zwei Meter breiten Schrank, in dem sich jedoch nur Frauenkleidung befand. Erst im Bad wurde Wiebke fündig: Auf der Ablage standen zwei Zahnputzbecher mit einer pinkfarbenen und einer tiefblauen Bürste, ein Nassrasierer mit Schaum, daneben zwei Haarbürsten und zwei Deos, einer mit dem Zusatz „For Men“ auf dem Etikett. Zufrieden zog sie Asservatenbeutel aus der Tasche und tütete die Zahn- und die Haarbürste ein.
Auf dem Rückweg zur Diele machte Wiebke am Spiegel der Garderobe halt. Hier hingen einige Fotos, auf denen die Vermisste zu sehen war. Die Bilder zeigten eine lebensfrohe zierliche Frau mit schulterlangen blonden Haaren und lustigen Grübchen. Ihre blauen Augen strahlten Lebensfreude pur aus. Wiebke trat näher, um die Aufnahmen zu betrachten. Auf einigen Bildern, sah sie die Vermisste in Begleitung eines attraktiven Mannes mit einem Lächeln, das für den Werbespot einer Zahnpastamarke taugte. Er war braun gebrannt und breitschultrig, auf manchen Fotos betonte er sein maskulines Äußeres mit einem Dreitagebart.
„Das ist ihr Freund“, kommentierte Erika Brütsch, die ihre Besucherin sehr aufmerksam beobachtete, „der Herr Gerissen. Ein netter junger Mann.“ Jetzt tippte die alte Dame auf ein Bild, auf dem eine dunkelhaarige Schönheit zu sehen war. „Und das hier“, sagte sie, „ist die beste Freundin von Frau Möller, Christiane Vollmer.“
„Sicher darf ich die Bilder mitnehmen?“, fragte Wiebke.
„Aber sicher.“ Erika Brütsch nickte. „Vielleicht erleichtern Ihnen die Fotos die Arbeit.“
Die Zeit drängte, so musste Wiebke Erika Brütsch versprechen, sich zu melden, falls es eine Spur zu Kerstin Möller gab. Nachdem Wiebke sich bei Erika Brütsch für die Zusammenarbeit bedankt hatte, verabschiedete sie sich von der alten Dame. Die Nachbarin, die Wiebke bei ihrer Ankunft misstrauisch beobachtet hatte, war im Haus verschwunden. Jetzt stand sie hinter der Gardine ihres Küchenfensters. Wiebke ignorierte die neugierigen Blicke und wählte Jan Petersens Nummer, nachdem sich ihr Smartphone mit der Freisprech-
einrichtung des Dienstwagens verbunden hatte. Mit wenigen Sätzen schilderte sie ihrem Partner die Situation. „Der Abgleich der DNA-Spuren wird beweisen, dass es sich bei der verschwundenen Besitzerin der Sportbekleidung um Kerstin Möller handelt“, schloss sie ihre Ausführungen.
„Na Mahlzeit“, brummte Petersen am anderen Ende der Leitung. „Dann werd ich mal den ganzen Apparat in Bewegung setzen.“
„Suchhunde, wieder der Hubschrauber und eine Wärmebildkamera“, stimmte Wiebke ihm zu. „Und sieh mal zu, wie schnell wir eine Hundertschaft von der Bereitschaftspolizei bekommen. Und ich brauche eine Handyortung, die Nummer schicke ich dir gleich. Kannst du das veranlassen?“
„Wird gemacht, Christensen kann schon mal mit dem Staatsanwalt telefonieren wegen der Anordnung. Kommst du gleich rein?“
„Bin schon auf dem Weg.“ Wiebke unterbrach die Verbindung, dann wählte sie die Nummer von Sven Gerissen. Erwartungsgemäß meldete sich nach drei Freizeichen die freundlich klingelnde Stimme eines jungen Mannes, der dem Anrufer beschied, nicht anwesend zu sein, aber wer mochte, konnte ihm eine Nachricht hinterlassen.
Wiebke mochte nicht. An einer roten Ampel tickerte sie Petersen eine WhatsApp, dass sie etwas später zum Polizeirevier komme, dann machte sie einen kleinen Umweg zum Industriegebiet.
ELF
Bundesstraße 201 Richtung Husum
Er hatte alles gut vorbereitet. Im Nachhinein ärgerte er sich darüber, dass er sie vor Ort entkleidet und die Sachen nur halbherzig entsorgt hatte. Doch es konnte nur besser werden. Ein teuflisches Grinsen schlich um seine Mundwinkel, als er das Smartphone in den Ruhestand versetzte und in die Ablage im Armaturenbrett legte. Diese kleinen digitalen Zauberkästen waren ein Segen. Sie erleichterten ihm die Arbeit auf seiner Mission.
Er fand, wonach er suchte.
Immer und überall.
Als er den Motor startete, konnte er nicht gleich losfahren. Bei dem kurzen Stopp waren die Scheiben beschlagen. So ließ er den Diesel einen Moment im Leerlauf tuckern und schaltete das Gebläse auf volle Leistung. Er nutzte die Zeit, um den nächsten Schritt zu planen. Sein nächstes Opfer stand bereits fest.
Als er freie Sicht hatte, drosselte er die Leistung des Gebläses, legte einen Gang ein und fuhr langsam vom Parkplatz herunter. Die Fahrt nach Husum dauerte keine zwanzig Minuten. Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett sagte ihm, dass er gut in der Zeit war. Alles lief nach Plan.
Er würde die Zeit für einen kleinen Spaziergang durch die graue Stadt am Meer nutzen. Der Lesestoff war ihm ausgegangen. Ohne Buch fühlte er sich unvollständig. Gleich würde er sich in der Buchhandlung mit Nachschub versorgen. Und ihr dabei einen kleinen Besuch abstatten.
Er atmete tief durch, als er das Seitenfenster einen Spaltbreit öffnete und die frische Luft tief in die Lungen einsog. Der Wind trieb graue, unheilvolle Wolken ins Landesinnere und tauchte das flache Land links und rechts der Straße in ein bizarres Licht. Nordfriesland war seine Heimat, hier fühlte er sich wohl. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen lauschte er der leisen Musik aus dem Autoradio und summte mit. Als er Husum erreichte, spürte er eine undefinierbare Spannung in sich aufsteigen.
Er hatte Glück und fand einen Parkplatz an der Deichstraße. Ein kühler Wind fegte ins Landesinnere, immerhin hatte der fiese Herbstregen nachgelassen. Er warf eine Münze in den Parkscheinautomaten und löste das Ticket, um es hinter die große Windschutzscheibe zu klemmen. Ein Strafzettel wäre jetzt fatal, denn es galt, nicht aufzufallen in der Masse. Nachdem er sich gründlich versichert hatte, den Wagen abgeschlossen zu haben, zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch, setzte die Pudelmütze auf, versenkte die Hände in den Taschen seiner Jeans und schlenderte am Fischhaus Loof vorbei über die Hafenstraße in Richtung Innenstadt. Ein Lieferwagen parkte vor dem Kulturspeicher. Zwei Männer in Overalls entluden Kisten und schleppten sie in das alte Gebäude. Sie schenkten ihm