WattenAngst. Andreas Schmidt
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Sekundenlang kämpfte er gegen den Schwindel an, umklammerte die Lehne des Küchenstuhls, sammelte Kräfte und atmete tief durch.
Schwankend verließ er die Küche. Wenn ihr etwas zugestoßen war, würde er sich dafür die Schuld geben, dann würde er versagt haben. In seiner Angst spürte er gar nicht, dass er barfuß inmitten der Glasscherben gestanden hatte und jetzt mit jedem Schritt eine Blutspur durch das Haus zog. Mit zitternden Händen umschloss er das Treppengeländer. Mühsam zog er sich nach oben, jede Stufe ein Kampf. Übelkeit stieg wieder in ihm auf. Schwer kämpfte er gegen die drohende Ohnmacht an.
Noch eine Schwäche wollte er sich nicht erlauben. Er musste da sein für sie, wollte sie beschützen. Allein der Gedanke, dass er möglicherweise bereits zu spät kam, trieb ihn voran.
Dunkel lag der obere Flur jetzt vor ihm. Er hielt am Treppenabsatz inne, um zu lauschen. Kein Laut drang an seine Ohren. War der Einbrecher hier oben, war er bei ihr?
Der Gedanke trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. So schnell es ging, setzte er seinen Weg zum Schlafzimmer fort. Hier überholte ihn das Grauen, denn der Anblick, der sich ihm bot, entlockte seiner Kehle einen dumpfen Laut.
Sie war da. Lag neben dem Bett, fast so, als wäre sie herausgefallen. Auf dem Rücken, den starren Blick an die Decke des Schlafzimmers gerichtet, der Mund einen Spalt breit geöffnet. In ihrem Blick lag die pure Todesangst. Grotesk standen Arme und Beine von ihrem Körper ab, die Beine gespreizt, die Arme angewinkelt, der rechte Oberarm nach unten, der linke nach oben.
Fast wie ein Hakenkreuz, durchzuckte es ihn. Wie gebannt blickte er in ihr Gesicht, versuchte, Leben in ihren gebrochenen Augen zu erkennen, eine Regung an ihrem Körper zu registrieren.
Vergeblich. Der Einbrecher war schneller gewesen, hatte es sich zunutze gemacht, dass er ihn außer Gefecht gesetzt hatte.
Alles, nur das nicht, schrie alles in ihm, während er sie aus tränenverschleierten Augen betrachtete.
Erst im zweiten Augenblick wurde ihm klar, dass sie inmitten einer Blutlache lag. Mit einem Schrei brach er zusammen.
Ich habe versagt.
Sie war gestorben, weil er sich von dem Angreifer hatte niederstrecken lassen. Wut mischte sich unter die Trauer über den Verlust, dann spürte er, wie seine Kräfte schwanden. Das Letzte, an das er dachte, war, dass sein Leben keinen Sinn mehr hatte, dann würgte er und konnte nicht verhindern, dass er sich auf dem Fußboden im Flur übergab.
ZWEI
Ostenfeld, 1.35 Uhr
Sie hatte schlecht geschlafen. Die Sache mit Eike machte Wiebke seit Wochen schon zu schaffen. Ihr Freund war als Frontmann der Band „Sleepless“ auf Deutschlandtournee und meldete sich seit Tagen nicht bei ihr. Auch ihre vergeblichen Anrufe und Wiebkes Textnachrichten ignorierte er hartnäckig. Gäbe es nicht das Profil seiner Band auf Facebook, Wiebke würde sich ernsthafte Sorgen machen, ob er überhaupt noch lebte. Seit einigen Monaten schon führten sie eine dieser „On/Off“-Beziehungen. Immer, wenn Eike bei ihr war, zeigte er sich als verständnisvoller, einfühlsamer Mann, als leidenschaftlicher Liebhaber, als guter Zuhörer und als bester Freund für die Kommissarin. Doch sobald er in den Tourbus stieg, schien er in eine andere Welt einzutauchen. In die eines Rockstars, der nur für die Bühne lebte und der kein Privatleben hatte. Wiebke wagte es nicht sich, auszumalen, was er nach den Auftritten im Hotelzimmer tat.
Alles um sich herum, sein bürgerliches Leben, seine kleine Tochter, seine Freundin, all das ließ er vor dem Bus zurück. Einmal auf Tour, war Eike Godemann ein anderer Mensch.
Wiebke war fast dankbar, als sie den Klingelton ihres Handys wahrnahm, der wie durch Watte an ihre Ohren drang und sie aus dem Halbschlaf weckte. Das Smartphone lag auf dem Ankleidestuhl neben dem Bett. Die Vibration des Akkus erinnerte Wiebke an eine wütende Hummel. Das Telefon wanderte über den Stuhl und drohte, zu Boden zu fallen.
Schnell richtete sich Wiebke auf, sie gähnte herzhaft und spürte einen stechenden Kopfschmerz in der Stirn. Ihr war, als hätte sie einen dicken Kloß in ihrem Hals, ihre Stimmbänder und ihre Mandeln schmerzten.
Oh nein, dachte sie. Eine Erkältung kann ich jetzt nicht gebrauchen.
Schlaftrunken fischte sie nach dem Handy, warf einen Blick auf das Display und erkannte, dass es sich bei dem Anrufer um Jan Petersen handelte. Es hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten, wenn ihr Kollege sie zu dieser Zeit anrief.
„Moin“, sagte ihr Partner viel zu gut gelaunt, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte. „Kannst dich flott aufhübschen und dann ausrücken. Wär nett, wenn du mich mitnimmst.“
„Was ist passiert?“, krächzte Wiebke in den Hörer. Sie gähnte herzhaft und fuhr sich mit der freien Hand durch das Gesicht.
„Mann Mädchen, ist alles gut bei dir? Du klingst, als hättest du eine Hafenkneipe leergetrunken.“ Petersen klang besorgt.
„Na danke auch“, erwiderte sie heiser und räusperte sich. „Ich glaube, ich hab mir was eingefangen.“ Wieder räusperte sie sich. „Wie dem auch sei – solange ich den Kopf nicht unter dem Arm trage, bin ich ansprechbar. Also, was ist los?“
„Es hat eine Schießerei draußen in Hockensbüll gegeben.“ Seine Stimme klang ebenfalls rau, was aber an zig Zigaretten und literweise Whisky lag – so klang es jedenfalls. Dabei trank er nicht. Auch das Rauchen hatte der geschiedene Endvierziger vor Jahren schon aufgegeben. Manchmal fragte Wiebke sich, was ihr Partner in seiner Freizeit trieb. Sie stellte fest, dass sie noch immer nicht viel von ihm wusste, und das, obwohl sie im Dienst Tag und Nacht zahlreiche Stunden Seite an Seite verbrachten.
„So kann die Woche ja anfangen“, murmelte Wiebke schlaftrunken. Es war Montag. Hinter ihr lag ein ruhiges Wochenende, das sie einmal mehr ohne Eike verbracht hatte. Wiebke verdrängte die düsteren Gedanken und konzentrierte sich auf Jan Petersens Anruf. „Weiß man schon mehr?“
„Mord. Ein Heckenschütze hat den Geschäftsführer der Messegesellschaft in seinem Haus erschossen.“
„Ein Anschlag auf den Fürsten von Husum?“ Wiebke war auf der Stelle hellwach. „Hans Olaf Berger ist tot?“ Der Unternehmer war in Nordfriesland bekannt wie ein bunter Hund. Da ihm nachgesagt wurde, die Finger in allen Geschäften zu haben und dass seine Macht auch bis in die Politik reichte, bezeichnete man ihn als den „Fürst von Husum“.
„Jo“, machte Petersen. „Berger ist am Fenster seiner Villa abgeknallt worden.“
„Um diese Uhrzeit?“ Wiebke runzelte die Stirn. „Was gibt es da am Fenster zu sehen?“ Die rot glühenden Ziffern ihres Weckers zeigten, dass es fast zwei Uhr morgens war. Hinter dem Dachfenster ihres kleinen Schlafzimmers herrschte Dunkelheit, nicht einmal der Mond und Sterne hatten es in den letzten Stunden geschafft, die tief hängenden Wolken zu verdrängen.
„Wann wäre es dir denn lieber?“ Petersen lachte. „Am helllichten Tage geschieht so etwas eher selten.“
„Also ein gezieltes Attentat?“ Wiebke versuchte vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen.
„Klar.