Auf der Spur der Sklavenjäger. Alexander Röder
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Alles in mir sträubte sich dagegen, zu der Einschätzung zu kommen, dass in dem Stein irgendeine Form von Leben war. Aber er reagierte.
„Mein Augenmerk liegt ja nicht darin, Magie anzuwenden, sondern Magie zu erforschen.“ Haschim war jetzt ungewöhnlich ernst. „Auch wenn ihr mich gelegentlich Magie anwenden seht, so verstehe ich mich doch nicht als Magier. Ich erkunde sie, ich beschreibe sie, ich hinterfrage sie. Ich versuche, sie zu verstehen, und ich versuche, sowohl ihre Funktionsweise als auch ihre Herkunft zu ergründen.“ Als er nun auf den Felsen wies, wirkte er plötzlich etwas hilflos. „Ich führe euch hier eine sehr mächtige Magie vor – aber ich vermag sie bislang weder zu erklären, noch weiß ich, wo sie herstammt. Es mag sein, dass Jahrhunderte vor mir ein Magier oder gar eine Magiergruppe hier ein magisches Zentrum geschaffen hat, das dann vergessen wurde. Es mag aber auch sein, dass die Magie des Steins andere Ursachen hat: dass der Stein aus sich heraus entstanden ist – dass er gar keiner Magier bedurfte …“
Wir hatten ihn reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Was hätten wir auch sagen sollen …
Sowohl Halef als auch Lindsay neigten bei besonders schwierigen Fragen ohnehin zu Pragmatismus. Wenn eine Sache existierte, dann gab es sie einfach. Wenn eine Sache funktionierte, dann nahm man das so hin – und nutzte es aus. Manchmal musste man gar nicht mehr wissen.
Und der ohnehin sicher geerdete Halef drehte gerne eine Sache von der Theorie in die Praxis, so wie jetzt: „Verehrter Scheik Haschim, Ihr habt uns sicher nicht hier hinabgeführt, um mit uns über Magie zu philosophieren. Deshalb: Was ist mit diesem Felsen?“
Natürlich war Halefs Ungeduld ein wenig unhöflich – doch seine ungenierte Art sprach uns aus der Seele, und Haschim nahm Halef seine Worte auch nicht übel.
„Der Felsen“, erklärte Haschim nun, „gewährt demjenigen, der ihn berührt, eine Telesicht: einen Blick auf ein Objekt seiner Wahl, seines augenblicklichen Interesses, und das ganz gleich, wo sich das Objekt derzeit befindet.“
Er ging auf Lindsay zu, legte eine Hand sanft auf dessen Schulter und dirigierte ihn bis unmittelbar vor den Felsen. „Ihr seid derjenige unter uns, der am meisten von Schiffen versteht, Sir David. Deshalb könnt Ihr uns die Sicht auf Turnersticks Bark The Courser öffnen.“
Er hob seine rechte Hand, hielt sie etwa in Kopfhöhe, richtete sie senkrecht aus und spreizte dabei alle fünf Finger. Dabei sah er Lindsay an, der diese Bewegung wie gebannt nachahmte.
„Legt Eure Hand nun an den Felsen“, forderte Haschim den Lord auf, ohne dass er aber selbst den Felsen berührte.
Sir David ging noch einen halben Schritt näher an den Felsen heran und berührte ihn vorsichtig mit der flachen, erhobenen Hand, zögerte dann erst etwas, doch als er wahrnahm, dass ihm kein Leid geschah, presste er die Hand fest auf den schwarzen Stein.
„Und nun denkt an die Courser“, führte Haschim Sir David weiter durch das Ritual. „Stellt Euch vor, wie sie aussieht, memoriert sie vor Eurem geistigen Auge.“
Sir David schloss für einen Moment seine Augen und konzentrierte sich.
Es bedurfte nur einer kleinen Weile, da begannen auf dem Felsen um seine Hand herum einige scheinbar wirre Linien zu entstehen, die den Stein aufhellten, Wirbel, die verdrehte geometrische Formen bildeten und sich blitzschnell immer wieder veränderten, die von der Hand ausgehend mehr und mehr den gesamten Felsen überzogen, die aber kein Muster erkennen ließen. Doch dann war es plötzlich, als risse eine Nebelwand auf, und es eröffnete sich uns eine Ansicht von gigantischer Ausdruckskraft: ein Ausblick auf eine Meeresszene, in deren Mitte ein Segelschiff schwamm. Alles war so getreu, wie wenn wir als Beobachter mitten im Meer stehen würden, und es war auch kein Bild, sondern eine bewegte Szenerie: Die Wellen liefen über das Wasser, und das Schiff ging mit den Wellen auf und nieder.
Nur zu hören war nichts.
Sir David hatte das Erscheinen der Szene nicht mitbekommen, weil er zur besseren Konzentration immer noch die Augen geschlossen hielt. Als er sie jetzt öffnete, erschrak er so sehr über die plötzlich vor ihm befindliche Szenerie, dass er unwillkürlich seine Hand wieder vom Felsen nahm. Schlagartig war das Bild weg und die Wand wieder tiefschwarz.
Doch Sir David war glücklicherweise so geistesgegenwärtig, die flache Hand wieder an den Felsen zu pressen, und sogleich war das Bild wieder da, sodass wir weiterhin mit großem Staunen das Segelschiff betrachten konnten.
„Stellt Euch nun das Deck vor“, leitete Haschim Sir David weiter an.
Da näherte sich das Schiff, als würde es auf uns Betrachter zufliegen – oder wir auf das Schiff. Wir erkannten immer mehr Einzelheiten der Takelage, dann sahen wir Bewegungen auf dem Oberdeck. Es liefen Matrosen herum, die ihren Aufgaben nachgingen, und einige dieser Matrosen waren Frauen. Ihre kurzen Haare waren zerzaust, und ihre Gesichtsfarbe war vom Seewind und der Sonne gerötet, aber sonst schien es ihnen gutzugehen.
Zwei waren dabei, ein Segel zu flicken. Eine dritte Frau half zwei männlichen Matrosen dabei, die Segel straffzuhalten, sie zog Seile nach und achtete darauf, dass diese sich glatt über die Rollen legten. Eine Frau stand etwas abseits und schien zu schimpfen, jedenfalls legten wir ihre heftigen Gesten so aus.
Weitere Frauen waren nicht zu sehen; sie mochten unter Deck sein oder auf der Rückseite hinter den Aufbauten und damit außerhalb unserer Perspektive. Kampfspuren oder andere Beschädigungen waren keine zu sehen, also war das Schiff vermutlich unbehelligt seinen Weg durch die arabischen Gewässer gesegelt. An Aden war es vorbeigekommen, das hatte die Sabäerin bestätigt, der wir in ihrem sagenhaften Reich wiederbegegnet waren. Vom Zeitverlauf her musste das Schiff nun längst den Suezkanal passiert haben und im Mittelmeer kreuzen. Doch ebenso konnte es aufgehalten worden sein, denn im Roten Meer hatte es einmal einen Abu Seif gegeben, Hannehs und Djamilas Vater, seines Zeichens ein berüchtigter Pirat – der mochte Nachfolger gefunden haben.
Da erkannten wir Turnerstick, der sich zum Steuer begab.
Und als Sir David nun Turnerstick folgte und das Felsenbild anschließend einen Blick in diejenige Richtung freigab, in die der Kapitän Ausschau hielt, zeigte sich uns eine breite Hafeneinfahrt.
„Malta!“, rief Lindsay aus. „Das ist unverkennbar der Grand Harbour von Valletta.“
Jetzt erkannte auch ich die charakteristische Hafeneinfahrt mit der Zitadelle von Valletta rechter Hand und den mächtigen Bastionen auf sämtlichen umliegenden Landzungen, die von der Verteidigungsbereitschaft des Malteserordens bei unzähligen historischen Belagerungen zeugten. Hier drohte allerdings keine Gefahr mehr. Malta war britisches Hoheitsgebiet und wurde seit 1814 von der Krone eifersüchtig und mit hoher Marinepräsenz gehütet.
„Das Bild ist übrigens kein Abbild unserer eigenen Wünsche“, stellte Haschim an dieser Stelle klar, und es schien mir fast, als könnte er meine Gedanken lesen. Denn dieser letzte Zweifel hatte noch tief in mir genagt. Magie war schließlich auch Schein, Illusion, Verhüllung; Magie fand oft nur im Kopf derjenigen statt, denen sie vorgeführt wurde. „Der Stein zeigt das, was in diesem Moment der Betrachtung wirklich geschieht, und er manipuliert die Realität nicht. Er verschafft uns lediglich die Möglichkeit zur Fernsicht, zur Television.“
Also atmeten wir auf, denn wir konnten nun darauf vertrauen, dass die Befreiten endgültig einen sicheren Hafen gefunden hatten, von wo aus sie nach allen Ländern Europas reisen konnten.
„Ein faszinierender Zauber, aber gelegentlich nicht leichtzunehmen.