Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann
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Читать онлайн книгу Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann страница 22
Woher kam die Kälte?
Nur daher, dass sie unter die Erde stiegen und die warme Außentemperatur hinter sich zurückließen?
Oder war es die heimtückische, schleichende Kälte, die Geister verströmten? Die, die einem kaum merklich in die Glieder kroch, bis sie in jedem Muskel saß, einen lähmte und man vor den Seelenlosen nicht mehr fliehen konnte, wenn sie einem nach der Wärme auch die Lebensenergie entzogen?
Nein.
Geisterkälte fühlte sich anders an.
Es war auch nicht feucht, was ein gutes Zeichen war, denn wo Wasser in Schächte eindringen konnte, gab es meist irgendwo Risse und undichte Stellen, an denen Geister aus dem Untergrund entkommen konnten.
Sie erreichte das Ende der Leiter und der Verwesungsgeruch wurde so widerlich intensiv, dass Sky sich jetzt wirklich wünschte, sie hätte nicht gefrühstückt.
Sie wünschte ebenfalls, der Anblick zu ihren Füßen wäre ihr erspart geblieben.
Direkt unter ihr lagen fünf oder sechs Leichen übereinander. Sie waren definitiv schon eine ganze Weile tot und aus der Nähe erkannte Sky, dass sie recht gehabt hatten. Die Köpfe waren zerschmettert, die Kehlen zerschlitzt und die Leiber aufgeplatzt oder aufgerissen. Was genau zutreffender war, war schwer zu sagen.
Die Lampe, die Gabriel heruntergelassen hatte, baumelte über dem Schachtende und Sky suchte eine Stelle auf dem Tunnelboden, auf die sie ihre Füße setzen konnte, ohne einen der Toten zu berühren, und wo keine Gefahr bestand, dass sie wichtige Spuren zerstörte.
Als sie sicher stand und den Blick hob, keuchte sie auf und kaltes Grauen kroch ihr den Rücken hinunter.
Die sechs Toten unter dem Schacht waren nur die Spitze des berühmten Eisbergs.
Der Tunnel war voller Leichen.
Wie achtlos weggeworfene Puppen lagen sie rechts und links des Zugangsschachts im Tunnel verstreut. Weiter als das Licht der Magnesiumlampe reichte. Zu viele, als dass man sie auf einen Blick hätte zählen können.
Unter den penibel nach Farben und Größen sortierten Blumenbeeten des Golders Hill Parks lag ein geheimes Massengrab.
Kapitel 7
Commander Pratts Gesicht sprach Bände, als er sich die Fotos ansah, die Connor von den Toten im Tunnel gemacht hatte.
»Wie viele sind es?«
»Achtundsiebzig«, antwortete Sky.
Thad fluchte. »Seid ihr sicher?«
»Ja. Wir haben sie unabhängig voneinander gezählt, weil es nicht leicht war, alle Körper auseinander zu halten.«
Pratt nickte grimmig. »Das sehe ich.«
Trotz seines Alters von Mitte Fünfzig, Glatze und Rollstuhl wirkte ihr Commander auf Sky oft energiegeladener und tatkräftiger als etliche der deutlich jüngeren Polizisten, die ihm unterstanden. Sie mochte Pratt. Er war zwar streng und verlangte von seinen Leuten viel, aber er war immer fair, erkannte Leistungen an und hatte keinerlei Vorbehalte gegenüber Totenbändigern. Im Gegenteil, er schätzte die Fähigkeiten, die sie mitbrachten, und sah sie als wertvollen Gewinn für sein Revier.
Nach dem Fund des Massengrabs hatten Sky, Connor und Gabriel den Tunnel sowohl unter als auch über Tage abgesichert, eine erste Sichtung des Fundortes vorgenommen und Fotos an Thaddeus geschickt, um zu fragen, wie sie weiter vorgehen sollten. Da die Leichen schon älter waren, hatten keine Geisterschemen mehr an ihnen gehaftet. Damit war ihr Job als Spuks eigentlich erledigt. Um ungeklärte Todesfälle kümmerten sich die Kollegen der Mordkommission. Dementsprechend hatte Thaddeus sie auch angewiesen, den Zugang zum Schacht wieder zu verschließen, zum Revier zurückzukommen und vorerst niemandem von ihrem Fund zu erzählen, bis sie mit dem Commander gesprochen hatten.
»Diese Art der Verletzungen …« Pratt studierte die Fotos weiter mit grimmiger Miene. »Die aufgeschlitzten Körper und eingeschlagenen Schädel – das sieht wie die Tat eines Wiedergängers aus.« Er blickte auf. »Könnte es sein, dass sich da unten in den Tunneln so ein Biest einquartiert hat? Oder gleich mehrere? Rotten diese Bestien sich unter der Stadt womöglich zu einem Rudel zusammen?«
Connor schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Laut der Versuche, die Wissenschaftler mit herangezüchteten Wiedergängern in den Verliesen des Towers durchgeführt haben, sind die Biester Einzelgänger. Treffen sie aufeinander, brechen Revierkämpfe aus. Außerdem soll Futterneid auch ein Riesenthema sein. Dass sich mehrere von ihnen zu einem Rudel zusammenschließen würden, halte ich daher für sehr unwahrscheinlich. Selbst in einem Unheiligen Jahr.«
»Dann hat nur ein Einziger all diese Menschen getötet?«, hakte Pratt nach.
Gabriel schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt glauben wir nicht, dass diese Leichen auf das Konto eines Wiedergängers gehen. Auf den ersten Blick sehen die Verletzungen zwar so aus, aber auf den zweiten passt vieles nicht zusammen.«
Connor beugte sich vor, rief auf dem Bildschirm einige der Fotos auf und vergrößerte Ausschnitte davon. »Die Schädel der Toten wurden zwar zertrümmert, ähnlich wie Wiedergänger es bei ihren Opfern tun, um an die Gehirne heranzukommen. Hier auf den Bildern sieht man jedoch deutlich, dass die Gehirne in den Schädeln noch vorhanden sind. Wir konnten das nicht bei allen Toten überprüfen, sonst hätten wir den Tatort verändert, bevor das Forensikteam Spuren sichern kann. Aber wenn ein Wiedergänger all diese Menschen getötet hätte, hätte er mit Sicherheit alle Gehirne gefressen.«
»Bei den anderen Organen sieht es ganz ähnlich aus.« Sky holte eine neue Auswahl an Bildern auf den Monitor und vergrößerte sie. »Auch hier können wir es ohne Forensiker zwar nicht mit absoluter Sicherheit sagen, doch bei diesen Leichen kann man trotz der Verwesung erkennen, dass die Körper zwar aufgeschlitzt, aber nicht ausgeweidet wurden, wie ein Wiedergänger es tun würde. Hinzu kommt noch, dass die Toten dort schon länger liegen. Sicher ein paar Wochen und es sieht so aus, als wären sie alle zur selben Zeit gestorben. Es gab keine älteren oder frischeren Leichen, wie man es erwarten würde, wenn ein Wiedergänger sich dort unten eingenistet hätte und jede Nacht neues Futter holen würde. Das wäre für einen Wiedergänger ohnehin eher ungewöhnlich. Es kommt zwar vor, dass intelligentere Exemplare sich ein Versteck suchen und ihre Opfer mit dorthin nehmen, aber in der Regel töten sie ihre Opfer einfach, zerren sie in die nächstbeste abseitsgelegene Ecke und fressen sie dort. So wie der Wiedergänger gestern Abend in der Gasse in Islington.«
»Außerdem wurden den Toten die Kehlen durchgeschnitten«, fügte Connor hinzu. »Und das hab ich bei einem Wiedergänger noch nie gesehen. Sie schlitzen ihren Opfern die Körper auf, um die inneren Organe zu fressen. Ihnen vorher die Kehlen durchzuschneiden, damit halten die Biester sich nicht auf.«
Pratt nickte nachdenklich. »Das heißt, ihr denkt, es steckt jemand anderes dahinter.«
Connor warf einen kurzen Blick zu Gabriel und sah dann wieder zu seinem Vorgesetzten. »Wir würden den Wiedergänger jedenfalls ausschließen und die Ermittlungen eher in eine andere Richtung lenken wollen.«
»Es gab im letzten Unheiligen Jahr schon einmal den Fund von Leichen