Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Tom Boyle, Mannschaftskapitän sowohl beim FC Burnley als auch beim FC Barnsley, war felsenfest davon überzeugt, dass „die Mannschaft, welche sich der besten Taktik bedient, am Ende siegreich sein wird, und dass in erster Linie der Kapitän der Mannschaft die Taktik wählt, mit der seine Truppe spielen soll. Die strategischen Möglichkeiten einer Fußballmannschaft sind unbegrenzt. Der Kapitän muss Ausschau halten nach den Schwachpunkten des Gegners und das Möglichste aus diesen Schwächen machen, indem er das Spiel in den entsprechenden Teil des Feldes dirigiert. Erscheint ihm der Gegner auf einer Flanke zu stark für die Männer, über die er auf jener Seite des Feldes verfügt, wird er die Order ausgeben, das Spiel auf die schwache Seite des Gegners zu konzentrieren. Die Partien der Zukunft werden mehr durch Taktik als durch irgendetwas anderes gewonnen, und glücklich kann sich die Mannschaft schätzen, die ein Genie von einem Kapitän ihr Eigen nennt – einen Mann, der die Sorgen auf seine Schultern zu nehmen vermag.“
Boyles Worte weisen auf zwei wichtige Dinge hin. Erstens war es der Kapitän und nicht der Trainer, der über die Taktik zu befinden hatte. Darin ähnelte er sehr viel stärker einem heutigen Kapitän beim Kricket als beim Fußball. Zweitens wandelte Boyle das 2-3-5 ein wenig ab. Er verlagerte das Spiel auf den linken oder rechten Flügel, anstatt die Positionen komplett zu tauschen. Gleichzeitig wirkt seine Denkweise sehr modern, da er bereits akzeptierte, dass es in der Taktik kaum allgemeingültige Wahrheiten gibt: „Beim Fußball muss die gewählte Taktik stets in einem Verhältnis zu den Fähigkeiten der Männer in der Mannschaft stehen, wenn man sie erfolgreich umsetzen möchte. Daher ist es schwierig, allgemeingültige Regeln zu formulieren“, sagte er.
Preston North End als Sieger der ersten beiden englischen Meisterschaften, der AFC Sunderland und Aston Villa als dominierende Kräfte in den 1890er Jahren sowie Newcastle United im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts waren allesamt extrem abhängig von Importen aus Schottland. Da war es nur logisch, dass sie auch ein Kurzpassspiel nach schottischer Art aufzogen. „Die Stürmer tippen den Ball hin und her und gewinnen mit kurzen, scharfen Übergaben von einem Mann zum nächsten an Raum“, erklärte Frank Buckley, Verteidiger beim FC Birmingham (heute Birmingham City) und Derby County und später innovationsfreudiger Trainer der Wolverhampton Wanderers.
Für Newcastles Kapitänslegende Colin Veitch war die Einführung dieser Spielweise die Folge der Verpflichtung von Stürmer R.S. Coll von Queen’s Park (genannt „Toffee Bob“, zu Deutsch „Karamell-Bob“, weil er gemeinsam mit seinem Bruder einen Kiosk eröffnet hatte). Zudem befand sich der linke Läufer Peter McWilliam, der bereits ein Jahr zuvor von Inverness Thistle gekommen war und später als Trainer noch entscheidenden Einfluss auf Tottenham Hotspur nehmen sollte, in der Mannschaft. Von McWilliam stammt eine Beschreibung der Spielweise von McColl, die Kolumnist Looker-On später wieder aufnahm. Ausgangspunkt sei eine „feine erste Ballberührung“ gewesen, gefolgt von „einem raschen Blick über das Spielfeld, nach dem er ein Bild von der gesamten Anordnung gewonnen zu haben schien. In dem Moment spielte er einen wunderschön bemessenen Pass, stets auf Höhe der Rasenkante, zu seinem am besten positionierten Mannschaftskameraden, während er selbst die gefährlichste Position für den zurückkommenden Ball einnahm. Er schien mehrere ‚Züge‘ gleichzeitig zu sehen, wie beim Dame-Spiel. Sehr oft konnte ich beobachten, wie er einen Pass spielte und dann in die Position für ein Anspiel zurückging, auch wenn er wusste, dass der Ball zuvor noch von wahrscheinlich zwei oder mehr Männern seiner Truppe gespielt werden musste.“
Das war der Kern des schottischen Fußballs. Es war im Grunde genommen eine vorsichtige Weiterentwicklung der Spielweise aus Passen und Laufen, von der 1872 die arglosen Engländer überrascht wurden. Eine Variante der Kurzpassidee, die durch Newcastle bekannt wurde, war das sogenannte triangular game, das „Dreiecksspiel“. Dazu gehörten Passstafetten zwischen dem Außenläufer, dem Halbstürmer und dem Außenstürmer auf einem oder auch beiden Flügeln. Newcastles Bob Hewison, der diverse Rollen auf der linken Außenbahn übernehmen konnte, sprach in diesem Zusammenhang vom „Spiel mit sechs Stürmern“, was auf die offensive Ausrichtung hindeutet. „Die Kritiker betrachten es als Fußball in Reinform, als die Wissenschaft und Kunst der Kurzweil.“ Es war jedoch eine vergleichsweise Seltenheit, hauptsächlich deshalb, weil die richtige Umsetzung so schwierig war. „Man kann Individualität, Verstand, Anpassungsvermögen und Tempo gar nicht zu viel Bedeutung zumessen“, schrieb Hewison. „Die Anforderungen sind so umfangreich, dass nur ein wahrer Künstler solcherart spielen kann. Doch gibt es keinen Grund, weshalb diese Kunst nicht kultiviert werden sollte, da sie den unverfälschten Fußball darstellt.“
Für ihn wie für jeden sonst, der unter der Wirkung des schottischen Fußballs stand, mag das so gewesen sein. Im Süden Englands hingegen hielt sich die Denkweise, dass die stärker auf Muskelkraft ausgerichtete Variante des Fußballs die reinere darstelle. Die Londoner Corinthians, leidenschaftliche Anhänger des Amateurideals und, zumindest nach eigener Ansicht, Verfechter der besten Traditionen des Fußballs, hingen auch weiterhin dem Dribbeln und dem körperbetonten Spiel an. Gegründet hatte den Verein Nicholas Lane Jackson, ebenjener FA-Funktionär, der auch den Feldzug gegen den Einsatz von Profis bei Preston North End angeführt hatte. Er bestand darauf, dass „der Pass nach vorne während des Laufens“ das prägende Element der eigenen Spielweise sein müsse. „Die gesamte Sturmreihe läuft gemeinsam los und hält nicht an, so lange sie nicht den Ball verliert oder auf das Tor schießt“, sagte C.B. Fry, zu dessen zahlreichen sportlichen Meriten auch Einsätze für die Corinthians zählen. „Bei dem wissenschaftlichen und überaus gescheiten Kurzpassspiel der Profistürmer bleiben die Spieler oft stehen oder weichen nach hinten aus; diese Methode, mit der man zwar häufig den Ball halten kann, hemmt also den Angriffsschwung.“
Das mag zunächst einmal wenig raffiniert klingen, allerdings hatten die Corinthians Ende der 1890er Jahre mit G.O. Smith einen Mittelstürmer, der lieber die Bälle an seine Flügelspieler und Mitspieler verteilte, als selbst Tore zu schießen – vielleicht ein erster Vorläufer einer falschen Neun. Auch nach Ansicht von Klassestürmer Steve Bloomer, der an der Seite von Smith für England spielte, hat Smith „die Rolle des Mittelstürmers von der eines individualistischen Torjägers zu einem Spieler gewandelt, der die Sturmreihe, ja die gesamte Mannschaft miteinander verband“.
Im Profibereich zeigte sich die direktere Herangehensweise tendenziell als offene oder über die Flügel laufende Spielweise. „Die gefährlichste Form des Angriffsspiels ist die sich verlagernde, offene Spielweise, mit langen Pässen aus dem Zentrum auf die Flügel und von den Männern auf den Halbpositionen auf dem einen Flügel auf die Flankengeber auf dem anderen“, erklärte Andrew Wilson, Halblinker bei Sheffield Wednesday. „Wenn man den Ball solcherart zirkulieren lässt, wissen die Verteidiger nicht, wo sie einen kriegen sollen. Stürmern, die am Balle kleben bleiben, können sie wohl die Luft zum Atmen nehmen, doch wenn es flink hin und her geht, geraten sie in Verlegenheit.“ In den Worten von Wednesdays Halbrechtem Billy Gillespie gehörten zu dieser Taktik „schwungvolle Pässe vom Halbstürmer auf dem einen Flügel zum Außenstürmer auf dem anderen, mit weiten Pässen vom Mittelstürmer auf beide Seiten“.
Diese Spielweise kam etwa bei Blackburn Olympic zum Einsatz und wurde Mitte der 1880er Jahre von West Bromwich Albion weiterentwickelt. West Brom hatte 1886 und 1887 das Endspiel um den FA-Cup verloren, und kaum einer setzte auf sie, als sie im Finale 1888 auf das übermächtige Preston trafen, das in der ersten Runde den FC Hyde mit 26:0 ausgeschaltet hatte. Bei Preston war man sich seiner Sache so sicher, dass man den Schiedsrichter, Major Francis Marindin, fragte, ob man sich nicht vor dem Anpfiff mit dem Pokal fotografieren lassen könne. „Solltet ihr den nicht vorher auch gewinnen?“, entgegnete der.
Die Spieler von Preston beklagten sich später, dass sie vor dem Spiel noch beim University Boat Race zugeschaut hätten