Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Doch ob man nun schnell oder langsam spielte, mit kurzen Pässen, in Dreiecken oder von Flügel zu Flügel oder gar das Dribbling alter Schule praktizierte – die Schottische Furche, die „Pyramide“, blieb weltweit der Standard. Erst mit der Änderung der Abseitsregel konnte in England das W-M-System entstehen. So wie es einmal die „richtige“ – sprich: einzige – Spielweise gewesen war, zu dribbeln oder alles nach vorne zu werfen, hatte sich nun das 2-3-5 zum Maß aller Dinge entwickelt.
KAPITEL 2
Walzer und Tango
Bald erfreute sich Fußball auch außerhalb Großbritanniens wachsender Beliebtheit. Fast überall, wo die Briten Handel trieben und Geschäfte machten, breitete sich das Spiel aus. Dies beschränkte sich keineswegs nur auf das Empire als solches. Schließlich konnte man mit dem Export von Kupfer aus Chile ebenso Geld verdienen wie mit Guano aus Peru, Fleisch, Wolle und Tierhaut aus Argentinien und Uruguay oder Kaffee aus Brasilien und Kolumbien. Sogar Bankgeschäfte waren überall möglich. In den 1880er Jahren waren 20 Prozent der britischen Auslandsinvestitionen auf Südamerika konzentriert, und um 1890 lebten 45.000 Briten im Großraum von Buenos Aires. Daneben gab es kleinere, aber ebenfalls bedeutende britische Gemeinden in São Paulo, Rio de Janeiro, Montevideo, Lima und Santiago de Chile. Die Briten betrieben dort nicht nur Geschäfte, sondern gründeten auch Zeitungen, Krankenhäuser, Schulen und Sportvereine. Sie beuteten die natürlichen Ressourcen Südamerikas aus und ließen dafür den Fußball zurück.
In Europa verlief die Geschichte ähnlich. Wo immer es eine britische Gemeinde gab, ganz gleich, ob sich ihre Existenz auf diplomatische Beziehungen, Bankgeschäfte, Handel oder Technik gründete: Prompt verbreitete sich dort der Fußball. In Budapest war Újpest, 1885 an einem Gymnasium gegründet, der erste Klub, dem bald darauf MTK und Ferencváros folgen sollten. In Wien mit seiner großen britischen Kolonie wurde Fußball zunächst noch von Angestellten der Botschaft sowie der Banken und verschiedenen Handels- und Ingenieurunternehmen gespielt, konnte sich aber bald breiter etablieren. Am 15. November 1894 fand das erste Spiel in Österreich statt. Der Vienna Cricket Club trat gegen die Gärtner der Anwesen des Barons Rothschild an. Das Interesse vor Ort war so groß, dass Ende 1910 von ehemaligen Mitgliedern des Cricket Club der Wiener Amateur-SV gegründet wurde.
Bei den Tschechen dagegen konkurrierte der Fußball zunächst mit Sokol, der dortigen Variante des in Deutschland so beliebten und nationalistisch gefärbten Turnens. Da sich aber eine wachsende Zahl junger Intellektueller aus Prag an London und Wien orientierte, schlug das Spiel auch dort rasch Wurzeln. Als 1897 der für alle Mannschaften des Habsburgerreiches offene Challenge Cup eingeführt wurde, stieg das öffentliche Interesse weiter an.
Anglophile Dänen, Niederländer und Schweden waren nicht minder schnell darin, sich das Spiel anzueignen. Die Dänen erwiesen sich sogar als so stark, dass sie bei den Olympischen Spielen 1908 in London die Silbermedaille erringen konnten. Nirgends indes dachte man daran, in taktischer oder sonstiger Hinsicht irgendetwas anders zu machen als die Briten. Schaut man sich Fotografien niederländischer Sportvereine aus dem späten 19. Jahrhundert an, fühlt man sich an das viktorianische England erinnert: überall nach unten zeigende Schnurrbärte und gespielte Gleichgültigkeit. Maarten van Bottenburg und Beverley Jackson zitieren in ihrem Buch Global Games einen der Abgebildeten mit den Worten, der Zweck des Sportes sei es, „inmitten der schönen niederländischen Landschaft … auf englischen Plätzen zu spielen, mit all den englischen Bräuchen und englischen Strategien“. Es ging hier also um bloße Nachahmung, eigene Ideen spielten keine Rolle.
In Mitteleuropa und Südamerika dagegen, wo man den Briten gegenüber eine skeptischere Einstellung pflegte, begann sich der Fußball weiterzuentwickeln. Zwar wurde das 2-3-5-System beibehalten, doch schließlich zählte nicht nur die Form, sondern auch der Stil. In Großbritannien blieb man, obwohl sich das Passspiel durchgesetzt hatte und das 2-3-5 allgemein verbreitet war, bei einer rauen und körperbetonten Spielweise. Andere Länder dagegen entwickelten ausgeklügeltere Formen des Fußballs.
Das Besondere am Fußball Mitteleuropas war seine schnelle Verbreitung unter der städtischen Arbeiterklasse. Zwar sorgten Tourneen des AFC Oxford University, des FC Southampton, des Londoner Klubs FC Corinthians, des FC Everton und des FC Tottenham Hotspur wie auch die Gastspiele mehrerer Trainer für einen weiterhin britischen Einfluss. Allerdings waren die Spieler selbst nicht von den Werten englischer Privatschulen geprägt worden und deshalb auch nicht voreingenommen, was die „richtige“ Art betraf, Fußball zu spielen.
Darüber hinaus übten die Schotten den größten Einfluss auf sie aus. So kam es, dass das Spiel von kurzem, schnellem Passspiel dominiert wurde. Slavia Prag beispielsweise wurde von 1905 bis 1938 von John Madden trainiert, der vorher bei Celtic Glasgow als linker Innenstürmer aktiv gewesen war. Wie Jim Craig in seinem Buch A Lion Looks Back schreibt, galt er als „der Ballkünstler seiner Zeit, der alle Tricks draufhatte“. Unterdessen war sein Landsmann John Dick, der einst für den FC Airdrieonians und Arsenal London gespielt hatte, zwischen 1919 und 1933 zweimal als Trainer für Sparta Prag verantwortlich. In Österreich unternahm man gleichzeitig den bewussten Versuch, den Stil der Glasgow Rangers nachzuahmen, die dort im Jahre 1905 eine Tournee absolviert hatten.
Der wichtigste Lehrmeister des schottischen Spiels aber war ein Engländer irischer Abstammung: Jimmy Hogan. Er stammte aus einer streng katholischen Familie und wuchs in Burnley in Nordengland auf. Als Jugendlicher trug er sich zunächst mit dem Gedanken, Priester zu werden. Dann aber wandte er sich dem Fußball zu und wurde schließlich der einflussreichste Trainer aller Zeiten. „Wir spielten Fußball, wie ihn Jimmy Hogan uns gelehrt hatte“, sagte Gusztáv Sebes, Trainer der großen ungarischen Mannschaft der 1950er Jahre. „Wann immer man unsere Geschichte des Fußballs erzählt, sollte sein Name in goldenen Lettern geschrieben werden.“
Entgegen dem Wunsch seines Vaters, der eine Karriere als Buchhalter für ihn vorgesehen hatte, trat Hogan als 16-Jähriger der in Lancashire beheimateten Mannschaft des FC Nelson bei. Er entwickelte sich nach eigener Aussage zu einem „brauchbaren und fleißigen rechten Innenstürmer“, wechselte weiter zum AFC Rochdale und später zum FC Burnley. Berichten zufolge war er ein schwieriger Charakter, der immer wieder um eine bessere Bezahlung feilschte und fast besessen an sich arbeitete. Seine Mannschaftskameraden gaben ihm den Spitznamen „der Pfarrer“ und spielten damit auf seine pedantische, fast puritanisch anmutende Art an. Beispielsweise ersannen Hogan und sein Vater ein einfaches Trainingsfahrrad – im Prinzip ein auf einem klapprigen Holzgestell befestigtes Fahrrad. Darauf legte er täglich knapp 50 Kilometer zurück, bis er bemerkte, dass dies lediglich zu einer Festigung seiner Wadenmuskeln führte und ihn alles andere als schneller machte.
Training als solches sorgte selbst im Profifußball zunächst für Stirnrunzeln. Man erwartete von den Spielern, dass sie rannten und gegebenenfalls sogar ihre Sprintstärke trainierten. Die Arbeit mit dem Ball dagegen wurde als unnötig, möglicherweise sogar als schädlich angesehen. Auf dem Trainingsplan von Tottenham Hotspur von 1904 standen lediglich zwei Einheiten pro Woche mit dem Ball, was aber immer noch mehr war als bei den meisten anderen Teams. Würde man einem Spieler unter der Woche einen Ball geben, so die Argumentation, wäre er am Sonnabend nicht hungrig danach.
Nach einem Spiel, in dem Hogan eine Reihe von Gegnern ausgedribbelt, eine gute Chance herausgespielt und dann enttäuschenderweise über die Querlatte geschossen hatte, fragte er Trainer Spen Whittaker, was er wohl verkehrt gemacht habe. War seine Fußhaltung nicht korrekt gewesen? War er nicht im Gleichgewicht gewesen? Whittaker zeigte sich wenig interessiert und riet Hogan lediglich, es weiter zu versuchen. Ein Treffer bei zehn Versuchen sei doch