Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Schon früh gab es die Wahrnehmung, dass das Kurzpassspiel etwas für die Künstler war und der Fußball mit langen Bällen für diejenigen, die technisch vielleicht weniger beschlagen waren und das Beste aus ihrem limitierten Können machen wollten. „Da kam eine Mannschaft, die komplett aus Staffordshire stammte und deren Gehaltsabrechnung nicht mehr als zehn Pfund pro Woche betrug, und traf auf die Macht aus Preston, eine Truppe von hochbezahlten Künstlern, nicht wenige von ihnen gefeierte schottische Experten“, schrieb Green.
In Schottland hegte man keinen Zweifel daran, dass die reinste Form des Fußballs das Kurzpassspiel war. Das lässt sich am vielleicht deutlichsten an der Ablehnung erkennen, die die Glasgower Zeitungen dem Spiel mit langen Bällen entgegenbrachten, wie es von den Vereinen aus Dumbartonshire (FC Renton, FC Vale of Leven und FC Dumbarton) praktiziert wurde. Als Renton als schottischer Pokalsieger im sogenannten Champions-of-the-World-Spiel 1888 gegen FA-Cup-Sieger West Bromwich Albion antrat, zeigte Renton einen derart rohen Fußball, dass die schottische Presse als ausdrücklicher Befürworter des Kurzpassfußballs von Queen’s Park ihre Sympathie für West Brom nicht verhehlen konnte – und das, obwohl West Brom selbst für sein direktes Spiel nach vorn bekannt war. Die Spielweise Rentons muss also schon sehr weit vom Fußball Queen’s Parks entfernt gewesen sein.
Das Faible der Klubs aus Dumbartonshire für den langen Ball war schon sprichwörtlich, so dass der Scottish Umpire in einem Vorbericht zu einem Gastspiel von Barnsley bei Celtic Glasgow die „kurze und künstlerische“ Spielweise von Celtic gegen „den verwegenen, wagemutigen alten Renton-Fußball Barnsleys“ abgrenzte. Die Begegnung endete mit einem 1:1. Das war Anlass genug für das englische Referee’s Notebook, darüber nachzusinnen, dass „wir es in der Vergangenheit zwar gewohnt waren, die maschinenartigen Pässe von Aston Villa und die ausgezeichnete individuelle Klasse mancher Spieler West Bromwichs zu bestaunen, nie zuvor jedoch eine solche Kombination aus Kunstfertigkeit, grenzenlosem Enthusiasmus und waghalsiger Taktik wie jene gesehen haben, welche die Männer aus Yorkshire zeigten. Einigen Leuten schien der waghalsige Teil des Fußballs nicht zu gefallen, doch ist dies die neue englische Spielweise. … Das Spiel war den weiten Weg wert, und sei es nur, um den deutlichen Unterschied in den Spielweisen zu sehen. Celtic hat sich Anerkennung für die Art und Weise verdient, in der es sich gegen dermaßen mannhaft entschlossene Gegner stemmte. Es handelte sich um Barnsleys erstes Spiel der Saison, und es sagt viel über die Qualität ihres Trainings aus, dass die Männer das Spielfeld beinahe so frisch verließen, wie sie aus dem Pavillon aufgetaucht waren.“ Dass man Barnsley in England als fortschrittlich erachtete, in Schottland hingegen mit den Spießbürgern aus Dumbartonshire verglich, ist bezeichnend für die Entwicklung des Fußballs in diesen beiden Ländern.
Wie Alex Jackson festgestellt hat, gab es die Sichtweise, dass feiner Kurzpassfußball zwar prima für die Liga geeignet sei, eine Mannschaft jedoch knallhart sein müsse, wenn sie den FA-Pokal gewinnen wolle. Dort nämlich könne schon der kleinste Ausrutscher das Ausscheiden bedeuten. In einem Beitrag in Heft Nummer drei der Fußballzeitschrift The Blizzard erläutert Jackson 2011, dass Newcastle United, das in den FA-Pokalendspielen 1905, 1906 und 1908 jeweils unterlegen war, die Taktik auf eine härtere, stärker vertikal nach vorne gerichtete Spielweise umstellte und dann Barnsley im Finale 1910 im Wiederholungsspiel besiegen konnte. „Dieser vertikalen Spielweise wurde in englischen Pokalspielen der Vorzug gegeben“, schrieb Jackson in einem weiteren Beitrag über die Taktik der ersten Jahre. „Die Bedingungen im Pokal führten dazu, mit besonders viel Durchschlagskraft, Tackling und Tempo zu spielen. Das wiederum trug zu der besonders körperbetonten Natur des englischen Fußballs bei.“
In dieser Hinsicht ist es interessant, dass Percy Sands auch vom „Kick and Rush“ sprach, als er in seinem oben erwähnten Beitrag die verschiedenen Spielweisen auflistete. Das nämlich ist sicher keine Variante des Fußballs, die irgendein Trainer bewusst befürworten würde. Jackson hat auch kein Beispiel für einen Spieler gefunden, der diese Spielweise für seine eigene Mannschaft angegeben hätte. Dennoch legt die Verwendung dieses Begriffs nahe, dass allgemein der Fußball in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg schneller und aggressiver wurde, also genau die Intensität aufwies, wie man sie auch vom Pokalfußball kannte.
Eine übermäßig schnelle Spielweise war in England besonders stark ausgeprägt. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde dieses Problem zunehmend diskutiert, doch schon vor dem Ersten Weltkrieg war man sich bewusst, dass der englische Fußball immer schneller wurde, eventuell sogar in schädlichem Ausmaß. „Nach umfangreicher Erfahrung sowohl im schottischen wie im englischen Fußball sage ich ohne zu zögern, dass der schottische Fußball tatsächlich langsamer ist, obgleich die Schotten nach meiner Ansicht mit weniger Anstrengung auf das gleiche Ergebnis wie die Engländer kommen“, schrieb Looker-On 1910 (wobei er natürlich Schotte war). „Dass erstklassiger Fußball in Schottland genauer kalkuliert, planvoller und dementsprechend langsamer als englischer Fußball ist, wird praktisch jeder Schotte zugeben, und ich darf vielleicht sagen …, dass die Kaledonier in aller Regel sehr stolz auf diese Tatsache sind. Die schottischen Dorfvereine spielen ein dem durchschnittlichen Fußball in den professionellen englischen Ligen sehr ähnliches Spiel, was in erstklassigen Kreisen in Schottland geringschätzig als ‚Kick-and-rush-Fußball vom Dorf‘ bezeichnet wird. Abseits des Fußballs sind die Schotten durchaus genauso schnell wie die Engländer. Spielen sie indessen Fußball, scheinen sie in höherem Grade als die Angelsachsen einen ‚Kopfsport‘ zu spielen.“
Drei Jahre später hatte Looker-On seine These weiter ausdifferenziert. Nun stellte er fest, dass die unterschiedliche Spielweise in England und Schottland nicht bloß auf die Spieler zurückzuführen war, sondern auch auf die jeweilige Fußballkultur. Looker-On schrieb: „In Schottland … ist der Fußball langsamer, da die schottischen Zuschauer wissen, dass ein Mann, der den Ball über das halbe Spielfeld führt, diesen ganzen Aufwand nicht bloß zu dem einzigen Zweck betreibt, prima dabei auszusehen. Den schottischen Zuschauern nämlich ist wohlbekannt, dass der Ausführende am Ende eines solchen Dribblings den größten Teil der gegnerischen Verteidigung auf sich gezogen haben kann, mit dem Resultat, dass bei seinem Pass ein Kamerad frei vor dem Tor steht. In England wird ein Mann, der etwas Derartiges probiert, den Unmut der Zuschauer deutlich zu spüren bekommen. Dort wird man ihm zu verstehen geben, dass er sich vom Ball trennen soll oder es selbst erledigen müsse, und der schottische Fußball würde in England für lange Zeit auf keine Gegenliebe stoßen; nicht bevor die englischen Zuschauer ihn zu verstehen beginnen. Mehrfach haben Leute zu mir gesagt: ‚Was für ein Erfolg [Johnny] Walker oder [Jimmy] McMenemy wohl in England zuteilgeworden wäre‘, und ich habe dem stets widersprochen. Die beiden eben erwähnten Stürmer wären in beinahe jedem Stadion in England bis zur Abscheulichkeit mit Buhrufen bedacht worden, weil die Zuschauer ganz einfach nicht verstanden hätten, was die Stürmer im Sinn haben.“
Den Spielern war bewusst, dass das hohe Tempo negative Auswirkungen hatte. „Zu sagen, dass einem Spieler die Schnelligkeit fehle, ist in den Augen der Mehrzahl der Fußballanhänger ein vernichtendes Urteil“, meinte West Broms Flügelstürmer A.C. Jephcott 1914 dazu. Die Folge sei, dass „handwerkliches Geschick und Raffinesse bei Taktik und Ballkontrolle nachrangig behandelt zu werden scheinen“. Flügelstürmer Jocky Simpson, der zwar in Lancashire geboren wurde, aber bereits in jungen Jahren nach Schottland gezogen war und sowohl für den FC Falkirk als auch die Blackburn Rovers spielte, hegte keinen Zweifel daran, dass der englische Fußball schneller war. Darin sah er auch den Grund