Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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Nach der Rückkehr in die Heimat wurden die Urus prompt von Argentinien zu einem Match herausgefordert. Nach einem 3:2-Sieg nach Hin- und Rückspiel – zustande gekommen dank eines 2:1 in einem frühzeitig wegen Zuschauerausschreitungen unterbrochenen Rückspiel in Buenos Aires – meinte Argentinien, gezeigt zu haben, dass man Olympiasieger geworden wäre, hätte man an den Spielen teilgenommen. Vielleicht, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht. Sicher ist, dass die Mannschaft der Boca Juniors aus Buenos Aires auf einer Tournee durch Europa im Jahre 1925 zweifellos einigen Eindruck machte. Die Truppe verlor gerade einmal drei von 19 Spielen.
Zu den nächsten Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam reiste Argentinien dann tatsächlich an und traf im Finale ausgerechnet auf Uruguay, dem man im Wiederholungsspiel mit 1:2 unterlag. Zwei Jahre später trafen beide Mannschaften im Finale der ersten Weltmeisterschaft erneut aufeinander, und wieder triumphierte Uruguay, dieses Mal mit einem 4:2-Sieg. Soweit es sich auf Basis der zeitgenössischen Berichte beurteilen lässt, bestand Uruguays Vorteil darin, dass sie trotz aller Kunststückchen in der Lage waren, eine defensive Formation beizubehalten. Der Individualismus Argentiniens dagegen führte gelegentlich zu Unordnung. Der italienische Journalist Gianni Brera legte in seinem Buch Storia critica del calcio italiano dar, dass die WM von 1930 den Beweis lieferte, dass „Argentinien zwar einen Fußball mit viel Vorstellungsvermögen und Eleganz spielte, technische Überlegenheit jedoch die Preisgabe der Taktik nicht ausgleichen kann. Von den beiden Nationalmannschaften vom Río de la Plata sind die Uruguayer die Ameisen und die Argentinier die Heuschrecken.“
Es entstand die Theorie von La Garra charrúa – wobei sich „charrúa“ auf die eingeborenen Charrúa-Indianer Uruguays bezieht und „garra“ wörtlich „Klaue“ und in einem übertragenen Sinne „Mumm“ oder „Kampfgeist“ meint. Diese Garra charrúa gab einer Nation mit einer Bevölkerung von lediglich drei Millionen Menschen angeblich die Entschlossenheit für den Sieg bei zwei Weltmeisterschaften. Außerdem wurde damit die Brutalität späterer uruguayischer Mannschaften auf fragwürdige Weise legitimiert.
So romantisch diese Theorie auch gewesen sein mag – schließlich spielten von den Charrúa selbst nur sehr wenige Fußball –, so wusste doch jeder außerhalb Großbritanniens, dass der beste Fußball der Welt an der Mündung des Río de la Plata gespielt wurde. Klar war auch, dass er weit fortschrittlicher als das vorhersehbare 2-3-5 war, das man in England praktizierte. „Der angelsächsische Einfluss verschwindet zunehmend und macht den Weg frei für den weniger phlegmatischen und ruheloseren Geist der Lateinamerikaner“, hieß es in einem Beitrag in der argentinischen Zeitung El Gráfico aus dem Jahr 1928. „Sie [die Lateinamerikaner] begannen bald, die Wissenschaft des Spiels zu verändern und ihr eigenes zu gestalten. … Es unterscheidet sich insofern vom britischen, als es weniger eintönig und weniger diszipliniert und methodisch ist, weil es das Individuum nicht zugunsten kollektiver Werte opfert. … Der Fußball vom Río de la Plata legt mehr Wert auf das Dribbling und den selbstlosen persönlichen Einsatz und ist gewandter und attraktiver.“
Finale der WM 1930: Héctor Castro (2.v.r.) erzielt das 4:2 für Uruguay. Argentiniens Torhüter Juan Botasso reckt sich vergeblich.
Das Hohelied auf die Fantasie ging so weit, dass bestimmte Spieler als Erfinder bestimmter Fertigkeiten oder Tricks vergöttert wurden. Juan Evaristo wurde als Urheber der Marianella, des volley gespielten Hackentricks, gerühmt, Pablo Bartolucci für den Flugkopfball bejubelt und Pedro Calomino für den Fallrückzieher. Letzteres ist allerdings umstritten. Manche behaupten, dass der Fallrückzieher im späten 19. Jahrhundert in Peru erfunden wurde. Die meisten schreiben seine Erfindung jedoch Ramón Unzaga Asla zu, der in Bilbao geboren wurde, in jungen Jahren aber nach Chile auswanderte und den Fallrückzieher erstmals 1914 praktiziert haben soll. Dementsprechend entstand im spanischsprachigen Südamerika auch der Ausdruck Chilena, wobei sich dieser auch auf David Arellano beziehen könnte, der die Technik 1920 auf einer Tournee durch Spanien bekannt machte. Wieder andere schließen sich der Meinung Leônidas’ an, des brasilianischen Stürmers der 1930er Jahre, der Petronilho de Brito als Urheber des Fallrückziehers betrachtete. Bizarrerweise behauptete auch der ehemalige Präsident von Aston Villa, Doug Ellis, dass er den Fallrückzieher erfunden habe. Allerdings hatte er niemals in irgendeiner Liga Fußball gespielt und wurde überhaupt erst zehn Jahre nach dem ersten Bericht über die Ausführung des Tricks durch Unzaga geboren. Letztlich ist es in unserem Zusammenhang auch ziemlich egal, wer den Fallrückzieher erfand. Wichtiger ist, dass die Auseinandersetzung die Bedeutung aufzeigt, die man der in den 1920er Jahren an der Mündung des Río de la Plata herrschenden Fantasie beimaß. Angesichts der beschämenden ablehnenden Haltung des Fußball-Mutterlandes gegenüber Neuerungen kann man sich Ellis dann sogar tatsächlich gut als den ersten Mann vorstellen, der einen Fallrückzieher auf britischem Boden hinlegte.
Uruguay – Argentinien 4:2, WM-Finale, El Centenario, Montevideo, 30. Juli 1930.
Der argentinische Fußball entwickelte seinen ganz eigenen Gründungsmythos. Er beruht größtenteils auf einem Besuch der ungarischen Mannschaft von Ferencváros Budapest im Jahre 1922. Deren Vorführung des österreichischen „Scheiberlns“ revolutionierte angeblich die Ansichten der Einheimischen über das Spiel. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Tournee lediglich bereits stattfindende Umbrüche bestätigte: weg vom körperbetonten britischen Stil, hin zu einer Spielweise, die stärker auf individueller technischer Klasse beruhte.
Mit den Technik-Experimenten ging eine Bereitschaft einher, in gleichwohl vorsichtiger Weise an der Taktik zu basteln. „Südamerikanische Teams hatten eine bessere Ballbehandlung und eine stärker taktisch geprägte Spielauffassung“, sagte Francisco Varallo, seines Zeichens rechter Halbstürmer Argentiniens im ersten WM-Finale. „Zu jener Zeit hatten wir fünf Stürmer, wobei sich der Achter und der Zehner zurückfallen ließen und die Flügelspieler Flanken nach innen schlugen.“ Diese Halbstürmer sah man bald in der Schlüsselposition für die kreativen Momente, und der Fußball entwickelte einen Kult um die Gambeta, den slalomartigen Dribbelstil. Sowohl in Argentinien als auch in Uruguay erzählt man sich die Geschichte eines Spielers, der leichtfüßig durch die Reihen des Gegners tanzte und den Lauf mit einem fulminanten Tor abschloss. Bei der Rückkehr in seine eigene Hälfte habe er dann seine Fußspuren im Staub verwischt, damit ihm niemals jemand seinen Trick nachmachen konnte.
Auch wenn sich die Geschichte sicherlich nie so zugetragen hat, zeigt sie doch das vorherrschende Wertesystem, das besonders deutlich wurde in der Zeit, als sich der argentinische Fußball von der internationalen Bühne zurückzog. Vor der WM 1934 hatte Argentinien durch Emigration viele Spieler verloren – in der siegreichen italienischen Mannschaft spielten beispielsweise vier Argentinier – und kassierte in der ersten Runde eine Niederlage gegen Schweden. Nachdem die eigene Bewerbung für die Ausrichtung des Turniers abgelehnt worden war, weigerte man sich, 1938 ein Team nach Frankreich zu schicken. Infolge des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Isolation des Landes unter Juan Perón spielte Argentinien erst 1950 wieder international.
In der Zwischenzeit erlebte es ein goldenes Zeitalter: 1931 war eine Profiliga ins Leben gerufen worden, und die großen Stadien zogen gewaltige Zuschauermassen an. Zeitungen und Radioreportagen befeuerten das landesweite Interesse am Fußball. Das Spiel wurde für das Leben in Argentinien so bedeutsam, dass Jorge Luis Borges, der diesen Sport hasste, und Adolfo Bioy Casares, der ihn liebte, für ihre gemeinsame Kurzgeschichte „Esse est percipi“ eben den Fußball wählten, um zu zeigen, wie die Wahrnehmung der Wirklichkeit manipuliert werden kann. Im Mittelpunkt