Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов

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Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren - Группа авторов Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

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57). Daher ist der phänomenologische Zugang nicht der der Interpretation, sondern der der Deskription. Deskription wird als Praxis des Sehen-Lassens der „leibhafte[n] Selbstgegebenheit“ (ebd., S. 54) der Sache bestimmt. Auf dieser Grundlage ist die „oberste methodische Regel“ der phänomenologischen Deskription, „sich gerade nicht um Deutungen zu bemühen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es auch noch so dürftig sein“ (ebd., S. 63). Nicht die Differenz von Innen und Außen, sondern die Differenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit ist leitend. Unsichtbarkeit gilt nicht als Makel, sondern als die Bedingung der Möglichkeit des Sehens und Verstehens überhaupt (vgl. Brinkmann/Rödel 2020).

      Der phänomenologische Zugang verlässt sich aber nur in einer scheinbaren Naivität auf die Gegebenheit der Phänomene in der Erfahrung (vgl. zum Folgenden Brinkmann 2015a, 2019a). Er basiert einerseits auf einer Ontologie der Erfahrung des Leibes und der Dinge und insistiert auf dem unaufhebbaren doxalischen Grundzug lebensweltlicher und alltäglicher Erfahrungen, der sich gegen eine Kolonialisierung, Rationalisierung und Objektivierung der Lebenswelt stemmt (vgl. Brinkmann 2020a). Wahrnehmung und Erfahrung beruhen auf den „doxa“ der gesellschaftlich, kulturell und sozial formierten Lebenswelt, das heißt sie sind dogmatisch (vgl. Bourdieu 1993). Sie sind aufgrund kultureller, historischer und sozialer Erfahrungen und theoretischer und szientifischer Interpretationen formiert, normalisiert und strukturiert. Das bewirkt, dass Phänomene nur „verstellt“ oder „verschattet“ (Fink 2004, S. 193) sichtbar und erfahrbar sind. In der Wahrnehmung und im Erfahren tauchen daher zunächst vor allem unsere eigenen Deutungen, Normen, Konventionen und Kategorien auf. Diese sagen dann eher etwas über den oder die Wahrnehmende, weniger etwas über das Phänomen aus. Hier zeigt sich die zweite Bedeutung der natürlichen Einstellung: Sie muss aufgrund ihrer Verstellung durch Vormeinungen und Vorurteile erst gewonnen werden – mittels der Reduktion (vgl. 7.). Diese kann sich aber nicht „rein“ einstellen, da wir uns nicht aus unserem Leib, unserer Geschichte oder Kultur herausreflektieren können. Insofern ist der transzendentale Rückgang auf eine natürliche Erfahrung, wie sie Husserl proklamierte, eine Illusion (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 82). Sie ist ebenso unmöglich wie eine Epoché oder Reduktion vollständig sein kann.6 Gleichwohl dient sie als heuristische und methodologische Perspektive für einen reflexiven Einsatz, der sich kritisch gegen Vorurteile und Kolonialisierungen richtet, indem diese eingeklammert werden.

      Der doxalische, lebensweltliche und leibbezogene Zugang der Phänomenologie und ihre kritische Perspektive auf theoretische, szientifische und kulturelle Interpretationen beruht auf einer Theorie der Erfahrung und des Leibes. Auf dieser Grundlage wird die präverbale und präreflexive Erfahrung von ihrer nachgeordneten, sprachlichen Fixierung und Interpretation streng unterschieden. In der phänomenologischen Philosophie und Pädagogik wird, ausgehend von Husserl, der Leib als Weltorgan der Erfahrung qualifiziert und Leib-Sein von Körper-Haben unterschieden. Erfahren vollzieht sich im und durch den Leib (vgl. Brinkmann et al. 2019). Der Leib ist nicht Gegenstand (also Ding oder Objekt) und auch nicht Zentrum des Ich. Er ist vielmehr Medium unserer Welt- und Selbsterfahrung: „Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als Gegenstand, sondern als die Welt erfahren, auf die wir von unserem Körper aus unsere Aufmerksamkeit richten“ (Polanyi 1985, S. 23). Diese Erfahrung ist zunächst implizit, d. h. „ohne Worte“ und Begriffe, ohne ausdrückliche Reflexion, d. h. präreflexiv. Husserl betont die Differenz zwischen leiblichem Wahrnehmen (und Erfahren) einerseits und einer sprachlichen, symbolischen, bildlichen oder zeichenförmigen Repräsentation dieser Wahrnehmung und Erfahrung andererseits: „Zwischen Wahrnehmung einerseits und bildlich-symbolischer oder signitiv-symbolischer Vorstellung andererseits ist ein unüberbrückbarer Wesensunterschied“ (HUA III, S. 79). Es besteht also ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem, was erfahren wird, und dem, mit dem es repräsentiert wird: das Zeichen, das Bild, die Metapher, das Wort, der Begriff. Die leibhafte, „stumme“ Erfahrung (HUA I, S. 77) lässt sich nur nachträglich sprachlich fixieren. Es zeigt sich eine „signifikative Differenz“ (Waldenfels 1992). Der sprachliche Ausdruck artikuliert etwas, was sich ihm im Bezug zugleich entzieht. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einer Paradoxie des Ausdrucks (Merleau-Ponty 1986), weil Sprache und Interpretation auf Vorsprachliches und Vorreflexives bezogen bleiben, ohne an dessen Stelle treten zu können (Meyer-Drawe 1984). Die zeichenhafte und sprachliche Bestimmung des vorprädikativen Erfahrungssinns ist eine Praxis der Signifizierung. Im phänomenologischen Modell des Verstehens taucht damit Fremdheit als Kategorie auf, zum einen als Problem der Übersetzung einer stummen Erfahrung in dem Bereich der Sprache, zum anderen als Problem des Fremd-Verstehens von Anderen (vgl. Lippitz 2019).

      Die phänomenologische Deskription ist damit auch in die Differenz zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit eingespannt. Sie konzentriert sich auf das, was beschreibbar ist. Das Beschreibbare ist zunächst das Sichtbare. Die banale Feststellung, dass etwas ausschnitthaft und perspektivisch zu sehen ist, erweist sich damit als äußerst voraussetzungsreich. Unsichtbar sind nämlich sowohl die Motive und Absichten von Akteur*innen als auch ihre Bewusstseinsvorgänge oder Gefühle. Überhaupt sind die meisten Themen, die Pädagog*innen interessieren, wie Lernen, Aufmerksamkeit oder Bildungsvorgänge per se unsichtbar. Sie lassen sich nur indirekt erschließen. Was aber sichtbar und damit beschreibbar ist, sind leibliche Äußerungen in Mimik, Gestik, Tonus und Haltung sowie Expressionen im Lachen, Weinen, Lächeln usw.7

      Die Chance des deskriptiven Verfahrens besteht darin, dass das Beschreibende für die „Macht der Sprache“ (Wilhelm von Humboldt) besonders sensibilisiert wird – etwa beim Finden von geeigneten Verben, um Handlungsvorgänge zu beschreiben, ohne gleich eine Wertung auszusprechen. Überhaupt können Bewegungen genauer beschrieben werden, ohne Intentionen, Motive oder Absichten zu unterstellen. Die Beschreibung richtet sich dann vor allem darauf, wie gehandelt wurde, wobei die Mimik, Gesten und der Tonus und die leiblichen und emotionalen Antworten auf Andere im Mittelpunkt stehen. Verben und nicht-wertende Adjektive sind für eine anschauliche, deskriptive Darstellung nützlich. Dabei sollten im Gegenzug Um-zu-Motive oder Kausalsätze sowie Vergleiche, Metaphern und andere sprachlichen Bilder sehr sparsam verwendet werden, um möglichst nah an der „Sache selbst“ zu bleiben.

      Die Beschreibungen von komplexen Geschehen – etwa in pädagogischen Situationen wie im Klassenraum – kommen trotzdem schnell an ihre sprachlichen Grenzen. Vieles bleibt implizit, nicht sagbar. Vieles bleibt Deutung und Interpretation. Die Simultanität und Polyvalenz von Situationen lassen sich nur schwer in die Linearität und Grammatik der Sprache einfügen. Man gerät an die „Ränder der Sprache“ (Derrida 1984, van Manen 2012), spricht gleichsam mit der Sprache gegen ihre Grammatik, um sich dem Gezeigten wenigstens tentativ nähern zu können.

      Die Probleme der Beschreibung bestehen demnach darin, dass sich die gelebten Erfahrungen nie vollständig und ohne Verluste verbalisieren lassen. Eine Deskription übersetzt etwas Nicht-Sprachliches und Nicht-Begriffliches in das Medium der Sprache und unterwirft es damit den Regeln der Grammatik, der Linearität des Semantischen und den Konventionen des Diskurses. Fremdheit als ereignishaftes Moment in der Erfahrung aber steht „quer“ zu den Konventionen, Codes und Regeln der Sprache und des Diskurses. Es ergibt sich daraus eine „gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis (der Fremdheit, MB) sprechen zu können“ (Derrida 2003). Diese Unmöglichkeit lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, indem die Signifikation optimiert oder neutralisiert wird. Sie lässt sich aber in einen kritischen und reflexiven Modus überführen. Dazu ist es nötig, den Forschungsprozess und den Prozess der Verschriftlichung selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Mitgängig und zeitgleich mit einer Beobachtung, Beschreibung und Verschriftlichung von Erfahrungen muss eine Reflexion der impliziten Deutungen, Normen, Kategorien und Normierungen stattfinden. Die „phänomenologische Epoché“ kann, wie ich zeigen werde, diese Reflexion leisten. Ziel dieses Verfahrens ist nicht, eine vermeintliche Neutralität oder eine Natürlichkeit der Erfahrung herzustellen, sondern es soll sich etwas zeigen, was sich von der Sache her

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