Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов

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Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren - Группа авторов Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

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id="ulink_6f23dfcc-0c83-5881-9651-10df80b1460e">7. Phänomenologische Reduktion

      Die phänomenologische Deskription vollzieht daher mitgängig eine Reduktion oder Epoché. Die „natürliche Einstellung“ und die alltägliche Doxa werden einerseits kritisch eingeklammert. Andererseits versucht sich die skeptische Arbeit der Reduktion der „natürlichen Einstellung“ zur „Sache selbst“ zu nähern (zum Folgenden vgl. Brinkmann 2020a).

      Nach Husserl bedeutet Epoché als eidetische Reduktion Enthaltung einer Stellungnahme, eines Urteils bzw. eines Vorurteils über eine „Sache“ (HUA III, S. 64). Dazu muss das Urteil über die „Sache“ zunächst eingeklammert werden. Einklammern ist also nicht Nicht-Urteilen, sondern Aufschub des Urteils. Der Schritt zurück ist nicht nur Distanznahme zu den Doxa, den eigenen Vorurteilen, zu den mitgängigen Urteilen und Akten des Bewusstseins, sondern auch die reflexive Thematisierung einer Blickwende hin zum Wie dieses Prozesses. Die Aufmerksamkeit des Bewusstseins richtet sich auf die Aktvollzüge des Bewusstseins. Epoché ist keinesfalls mit einer psychologischen Operation zu verwechseln. Forschungspraktisch werden damit die eigene Intentionalität und die mitgängig thematisierten subjektiven und wissenschaftlichen Vorannahmen reflexiv erfasst. Im Zuge der Einklammerung als Distanznahme zu den eigenen subjektiven und theoretischen Vorannahmen lässt sich eine andere Sicht ‚auf die Sache selbst‘ gewinnen, weil diese als Zuschreibungen, als Bewertungen, oder Abwertungen, als Interpretationen und Deutungen sichtbar werden (zur Kritik der transzendentalen Voraussetzungen der Husserl’schen Epoché vgl. Brinkmann 2020a).

      Heidegger wendet sich von den subjekt- und transzendentalphilosophischen Grundlagen Husserls ab. Ihm zufolge ereignet sich in der Epoché als Anhalten einer Erfahrungsbewegung und Rückführung auf Erfahrung eine Bewegung vom Subjekt weg hin zum Phänomen, zur Sache. Sie ist damit auch ein Sich-Öffnen für das Nicht-Selbstverständliche, Fremde und Andere, das zunächst aufgrund der biographischen und theoretischen Vorurteile nicht gesehen wurde (vgl. Heidegger 1969, S. 88).

      Waldenfels geht noch weiter: Er bestimmt die Epoché als responsive Epoché in einer doppelten Weise: Zum einen als Reduktion vom Gesehenen auf das Sehen (Merleau-Ponty), und zum anderen als Reduktion vom Gesagten auf das Sagen (Levinas). Sie bewirkt eine Unterbrechung des doxalisch Bekannten, Gewohnten und Normalen. Fremdheit wird nicht nur erfahrbar, sondern es werden auch Ordnungen gestört und durchkreuzt. Damit wird es möglich, die eigenen Erfahrungen im Horizont von Fremdheit reflexiv auf anderes Wissen und Meinen auszurichten. Mit der Epoché können Stereotypen und Schemata nicht nur eingeklammert, sondern die wechselseitigen Zuschreibungen im Sagen und Zeigen als solche thematisiert und reduziert werden. Mit Waldenfels wird deutlich, dass die Epoche als Verfahren auf intersubjektiven Austausch angewiesen ist, ja dass sie eine soziale und kommunikative Operation ist: ein methodisch kontrolliertes Antworten auf Andere und Anderes (vgl. 9.).

      Zusammenfassend: Die Beschreibung der „Sache selbst“ (Husserl), hin zum Überraschenden und Ereignishaften (Heidegger) oder zum Ungewohnten und Unnormalen (Waldenfels) bedarf zunächst einer Rückführung (Epoché). Mit der Einklammerung von Urteilen (Husserl), dem Anhalten einer Erfahrungsbewegung (Heidegger) oder der Reduktion auf das Gesagte und Gesehene (Waldenfels) kann eine kritische Distanzierung stattfinden und eine reflexive Blickwende eingeleitet werden.

      Für das Verfahren der phänomenologischen Deskription wird damit deutlich, dass erstens der Prozess des Schreibens einerseits als Linearisierung eine Verlangsamung und damit gegebenenfalls eine Distanzierung und Reflexion ermöglicht. Andererseits führen die oben genannten Überlegungen zur sprachlichen Technik der Beschreibung und der Verwendung von Verben, Adjektiven, Metaphern zu einer Reflexion nicht nur des Schreib-, sondern auch des Wahrnehmungsprozesses. Hiermit wird eine Verzögerung oder ein Verweilen möglich, eine Distanzierung, und damit gegebenenfalls eine Reduktion von Vorurteilen, Zuschreibungen oder Stereotypen. Das Verfahren der phänomenologischen Deskription kann zweitens in einem intersubjektiven Austausch nicht nur intensiviert, sondern auch weiter und mehr an der „Sache“ orientiert werden. Eine intersubjektive Validierung (Lippitz 2018, S. 332) des Beschriebenen in einer am Material orientierten Diskussion, etwa einer Datensitzung oder in einem Analyse- oder Interpretationszirkel, ermöglicht einen Austausch unterschiedlicher Perspektiven und damit wiederum eine Distanzierung und eine intersubjektive Reduktion, die hier als gegenseitige Befremdung des eigenen Blickes durch und mit Anderen sowie durch die Teilhabe an Perspektiven und Sichtweisen Anderer und Fremder stattfinden kann (vgl. zum Problem der Fremdheit und Befremdung Brinkmann 2020a). In diesem Zusammenhang kommt drittens ein weiterer, wichtiger Schritt des phänomenologischen beschreibenden Zugangs in den Blick, nämlich die Variation.

      Im Zuge der Deskription und Reduktion wird eine weitere Operation möglich, die Eugen Fink und Werner Loch als „Einlegung“ bezeichnen (Fink 1978, S. 13; Loch 2018, S. 297). Im Unterschied zur hermeneutischen Auslegung von Vorhandenem und Geschehenem ist das phänomenologische Einlegen eine projektive und produktive Tätigkeit. Sie wird auch als Attribution, Zuschreibung oder Signifikation bezeichnet (vgl. Waldenfels 1993, S. 7). Sie ist ein zielgerichteter Akt, mit dem deutende Perspektiven auf die Deskription angelegt werden. In gewisser Weise findet also eine Auslegung des Beschriebenen statt, allerdings in projektiver, auf eine imaginierte Zukunft gerichteter Weise. Es handelt sich also nicht um eine Rekonstruktion, sondern um eine Projektion möglicher Perspektiven zum Zwecke des Auslotens von Spielräumen. Dieses Verfahren kommt damit deutlich in die Nähe der Abduktion (Reichertz 1993). In einem wissenschaftlichen Kontext können Deutungen und Theorien als Perspektiven für eine Auslegung fruchtbar gemacht werden.8 In einem interkulturellen Kontext ermöglicht die Einlegung von Perspektiven den produktiven Umgang mit kulturellen Differenzen.9

      Das phänomenologische Verfahren ermöglicht damit eine Pluralisierung von Sinn und eine Produktion von Sinn (Fink 1978) bei gleichzeitiger intersubjektiver Validierung.

      Im Zuge der Darstellung habe ich versucht deutlich zu machen, dass phänomenologische Deskription ein intersubjektives Verfahren ist. Verstehen lässt sich damit nicht (mehr) im Modus symbolischer Repräsentation und Dekodierung, auch nicht mehr als ausschließlich subjektive Tätigkeit, sondern als Antwort auf einen Anspruch von Anderen und Anderem sehen. Verstehen ist daher eine leibliche Praxis des Antwortens im Horizont einer Fremdheit, die sich nicht überspringen lässt. Im phänomenologischen Modell des Verstehens taucht Fremdheit als Kategorie auf – zum einen als Problem der Übersetzung einer stummen Erfahrung in dem Bereich der Sprache, zum anderen als Problem des Fremd-Verstehens von Anderen. In der Fokussierung auf Fremdheit und Andersheit unterscheidet sich das phänomenologische Verstehen von hermeneutischen und ethnographischen Modellen.

      Dieses Antworten ist erstens ein Antworten derer, die sich in den Situationen befinden, die beschrieben werden (vgl. Brinkmann 2019a). Mitgängig mit der Verkörperung antworten die Anderen gestisch und mimisch darauf. Im Modell des Antwortgeschehens (Waldenfels 2007) findet sich ein Konzept sozialer Interaktion, das sowohl sprachliche als auch leibliche, sowohl subjektive als auch soziale Akte erfassen kann. Die Antwort ist ein Geschehen, kein Zustand, kein intentionales Handeln und keine Reaktion auf einen Reiz bzw. keine Wirkung einer Ursache. Mit der Antwort eröffnet sich ein leiblicher Resonanz-Raum. Antworten als Verkörperung ist daher in der Differenz von Eigenem und Fremdem zu sehen (Waldenfels 2002). Darin tritt das, worauf geantwortet wird, ebenso hervor, wie Der- oder Diejenige, der oder die antwortet, sowie Dasjenige, worauf geantwortet wird (vgl. Brinkmann/Rödel 2018, Brinkmann 2019a).

      Damit wird zweitens der Vorgang des Verstehens als Antwortgeschehen zwischen den beteiligten Forscher*innen deutlich. Insbesondere in Datensitzungen und Interpretationszirkeln ist dieses Antwortgeschehen als Teilhabe an unterschiedlichen Perspektiven erfahrbar und – wiederum – beschreibbar. Die Beteiligten werden angesprochen und stimuliert, ihre eigenen Hinsichten, Ansichten und Vormeinungen als Antworten zu formulieren und zu teilen.

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