Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов
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Vignettenforscher*innen fühlen sich in dieser Hinsicht Husserls Parole „Zu den Sachen selbst“ verpflichtet. Mit ihr ist eine eigentümliche Rückkehr zu unserer ursprünglichen Verwicklung mit der Welt bezeichnet, an die das Denken nicht heranreicht, obgleich es erst durch sie ermöglicht wird. Die vorreflexive Verwandtschaft der Menschen mit ihrer Welt ist durch die Möglichkeit zur Distanzierung gebrochen, die eine Beziehung zu den eigenen Verhältnissen und zu den Dingen mit sich bringt. So gesehen, brauchen die Dinge unsere Interventionen, um für uns sein zu können. Umgekehrt sind wir an sie verwiesen, um von ihnen in Anspruch genommen zu werden. Während uns die anderen in einen Dialog verwickeln können, sprechen uns die Dinge zwar an, meinen uns aber nicht. In beiden Zuwendungen fungieren Beziehungen, die als solche Beachtung verlangen.
Hinter dem Vorwurf, nicht-propositionale Aussagen wären weder Philosophie noch gar Wissenschaft, versteckt sich eine bestimmte Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit, deren Alleinvertretungsrecht durch eine Konzeption des szenischen Verstehens in Zweifel zu ziehen ist. Um es in einer der Metaphern der Innsbrucker Vignettenforscher*innen zu formulieren: Vignetten fungieren als „Klangkörper“, die von Resonanzen und Anklängen bevölkert sind, die ein vielstimmiges Echo auf Erfahrungen meinen, deren Fülle in den Grenzen von allzu größer Nähe droht, ihre Fassung zu verlieren, und in allzu großer Abstraktion ihren Reichtum einbüßt. (Vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, S. 31 ff.)
Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die niemals mit sich selbst anfangen. In ihrer Sicht tritt das „Fangen“ in Anfangen in den Vordergrund. Sie sind eingebettet und bestimmt durch Umstände, für die wir selbst nicht einstehen können. Auch für menschliches Lernen gilt diese notorische Verspätung. Wenn wir uns unserem Lernen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen. Lernforschungen profitieren davon, dass das Lernen von anderen durchaus wahrzunehmen ist, weil wir es auf gewisse Weise beglaubigen können. Das etwa von Vignettenforscher*innen Wahrgenommene „gibt etwas preis von der Erfahrung, die der andere im Moment seines Entstehens [etwa eines Bildes] macht, nie aber jene Erfahrung selbst“ (Baum/Kunz 2007, S. 93). Das Bemühen darum, diese Preisgabe aufzufangen und aufzufassen, kann man als „szenisches Verstehen“ bezeichnen. Entscheidend ist dabei, dass jene, die verstehen wollen, mit denen, die verstanden werden sollen, in szenischer, also sozialer, vorreflexiver, leiblich situierter Verbundenheit stehen. Damit gerät eine vortheoretische, „partizipative szenische Einbettung“ (Hogrebe 2009, S. 56) in den Blick, die zwar distanzierte Analysen in Perfektion unmöglich macht, aber gerade deshalb die Einsicht in konkrete, unhintergehbare wie vage Voraussetzungen des Lernens gewährt. „Das Szenische liegt an der Peripherie unserer Wahrnehmung, aber in der Mitte unserer Existenz. Szenen, nicht Objekte sind das Primäre unseres Weltverhältnisses.“ (Buchholz 2019, S. 423)
Die Empirie der Vignettenforschung widmet sich im vorliegenden Material nicht isolierten Daten, die im Nachhinein in einen Zusammenhang gestellt werden. Sie teilt vielmehr typische Aspekte alltäglicher Erfahrung, d. h. sie registriert nicht lediglich das Gegebene, sondern schult eine bestimmte Wahrnehmungssensibilität. Dabei wird unterstellt, dass die Autor*innen Unterrichtsszenen wahrnehmen und nicht nur beobachten. Während Beobachtungen eine distanzierte Weltzuwendung meinen, bleiben Wahrnehmungen engagiert in ihrem Weltkontakt, verstrickt in ein Erfahrungsgewebe, das jeden Anspruch auf einen reinen Blick verdächtig macht. Sie sind sozial geprägt. Immanuel Kant spricht davon, dass wir Erfahrungen von anderen „adoptieren“ (vgl. Scholz 2000, S. 41 ff.) müssen, weil wir ansonsten nur Erkenntnisse über den eigenen Lebensort und die eigene Lebenszeit hätten. Strenggenommen hätten wir noch nicht einmal diese, weil wir schon die Sprache übernehmen müssen, in der wir unsere Erfahrungen artikulieren. Die Glaubensgewissheit, dass wir eine Welt haben, das Gefühl des Wirklichen, die Vertrautheit mit unserer Lebenswelt verdankt sich nicht einer Sammlung wahrer Aussagen. (Vgl. Wieland 1982, S. 230 f.) Sie lässt sich weder an einem absoluten Wissen noch an einer unmittelbaren Gegebenheit messen. Im absoluten Wissen verlören wir unsere Welt, in der Begegnung mit dem Unmittelbaren uns selbst. Den wahrnehmenden Forscherinnen und Forschern wird abverlangt, dass sie in „unausgerichtete[r] Bereitschaft“, gleichsam in „konzentrierte[r] Passivität“ (Anders 2017, S. 117) bei den Lernenden sind.
Im Allgemeinen haben wir keine Probleme, über unsere Wahrnehmungen zu sprechen. Wir können sie wie unsere Erfahrungen tauschen. Wir können Erfahrungen zwar nicht stellvertretend erwerben, wir können sie aber im doppelten Wortsinn teilen. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Weltzuwendung Gemeinsamkeit erzeugt, aber das Wahrgenommene auch aufteilt; denn nicht alles ist für jeden jederzeit zu sehen, zu hören oder auch zu riechen. Hans-Georg Gadamer hebt hervor, dass „Dabeisein […] mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem [meint], das zugleich da ist“ (Gadamer 1972, S. 118). „Zuschauen ist […] eine echte Weise der Teilhabe.“ (Ebd.)2 Das Gemeinsame in der Teilhabe garantiert, dass wir einander erzählen können, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben, ohne dass wir uns fragen, ob wir wirklich dasselbe wahrnehmen. Wir sprechen über Bilder, über eindrucksvolle Landschaften, schwärmen von unserem Lieblingskonzert, freuen uns, wenn andere unser Parfum als angenehm empfinden, und laufen nicht gerne barfuß über spitze Steine, kommen zur Hilfe, weil wir den Schmerz von anderen sehen. Kalter Wind lässt uns frösteln. Die Sonne blendet uns. Die Sirenen, das Feedbackpfeifen und das Kreideschaben auf der Tafel gehen uns buchstäblich auf die Nerven. „Ich werde [zwar] niemals wissen, wie Sie Rot sehen, und Sie werden nie wissen, wie ich es sehe; aber diese Trennung der Bewusstseinsströme wird erst nach dem Scheitern der Kommunikation erkannt, und unsere erste Reaktion besteht darin, an ein Seiendes zu glauben, das zwischen uns ungeteilt ist.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 36) Schwierig wird es also, wenn die Verständigung nicht gelingt, wenn die Sprache versagt, weil es ihr nicht glückt, unsere leibliche Resonanz auf die Welt zum Ausdruck zu bringen. Dann richtet sich die Frage darauf, was wir wirklich wahrnehmen. Mitunter wird allzu leichtfertig ein „Wir“ zum Subjekt des Satzes. Ein nicht unbedingt reflektierter machttechnischer Eingriff vereinnahmt und beraubt das andere Ich um sein Widerstandspotenzial.
3. Eine andere Empirie
Wenn in der Forschung von Empirie die Rede ist, dann ist sehr Unterschiedliches gemeint. Wissenschaftliche Erfahrungen werden oft als das Gegenteil von Lebens- oder Alltagserfahrungen aufgefasst. Im Rahmen der Durchsetzung mathematischer und naturwissenschaftlicher Vorbilder treten die Methoden, das Messen und Experimentieren, in den Vordergrund. Die Autorität positiver Empirie bröckelt jedoch, seitdem der reine Blick durch historische Betrachtungen in seine Schranken verwiesen wurde. Nun zeigt sich, dass die sogenannten unumstößlichen Tatsachen nachträgliche Idealisierungen im Forschungsprozess sind. (Vgl. Hampe/Lotter 2000, S. 12) Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie haben aufgewiesen, dass es keineswegs immer um wiederholbare Beobachtungen von eindeutigen Sachverhalten geht. Forschungen haben es nicht mit Naturdingen zu tun, sondern mit epistemischen Objekten. Diese Wissensobjekte verkörpern Konzepte, Konstrukte, Begriffe und Modelle, die auf Experimentalsysteme und Evidenzräume angewiesen sind. Damit soll die eingebürgerte Auffassung unterlaufen werden, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Experimente als Prüfsteine von Theorien thematisiert. Epistemische Objekte testen keine Hypothesen, sondern bringen Wissen allererst hervor oder, um es mit Hans-Jörg Rheinberger zu formulieren, der diesen Begriff in die Wissenschaftstheorie eingeführt hat: Während technische Objekte „in erster Linie Maschinen [sind], die Antworten geben sollen“, ist ein „epistemisches Objekt […] in erster Linie eine Maschine, die Fragen aufwirft.“ (Rheinberger 2006, S. 33) Wissensobjekte sind deshalb unbestimmt, offen. Sie sind unvermeidlich gebunden an das, was in einer Zeit unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sagbar ist. Die Frage muss demgemäß stets lauten, wie wurde dieses epistemische Objekt produziert, damit seine Effekte in bahnbrechenden Experimenten erzeugt werden können. Wissenschaftliche Erfahrung rückt so im Unterschied zum Beginn ihrer Karriere in die Nähe alltäglicher Erfahrung. Damit werden gleichzeitig Möglichkeitsräume geschaffen, das Feld der Erkenntnisse zu erweitern und der logischen Präzision mit ihrer begrifflichen Eindeutigkeit eine ästhetische Prägnanz und ihre anschauliche Dichte zur Seite zu stellen. (Gabriel 2019, S.