Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов
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Meyer-Drawe, Käte. Szenisches Verstehen. In: Vasileios Symeonidis/Johanna F. Schwarz (Hg.). Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Potential und Grenzen der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 8. Innsbruck, Wien 2020b, S. 17–27.
Peterlini, Hans Karl. Der zweifältige Körper. Die Leib-Körper-Differenz als diskriminierungskritische Perspektive – Vignettenforschung zu Rassissmuns, Sexismus und Behinderung. In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020, S. 25–45.
Waldenfels, Bernhard. Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Frankfurt am Main 2019.
1. Grundlagen
Szenisches Verstehen
Käte Meyer-Drawe
„Eine Erfahrung, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Erfahrung. Eine Einsicht, die man nicht wahrhaben will, ist keine Einsicht.
Ein Schmerz, den man vergißt, ist kein Schmerz.“
(Canetti 1999, S. 31)
„Auf Erfahrungen kann man sich nur beziehen, nicht berufen.“
(Benyoëtz 1990, S. 84)
In den folgenden Überlegungen sollen einige Vermutungen zur Besonderheit der Vignettenforschung Innsbrucker, Brixener und Klagenfurter Provenienz zur Diskussion gestellt werden. In einem ersten Schritt wird erläutert, woher der Einfall und die Motivation stammen, über szenisches Verstehen im Zusammenhang mit der Vignettenforschung nachzudenken. Im zweiten Teil soll das Konzept szenischen Verstehens dargelegt werden, um schließlich im dritten Abschnitt den Gedankengang mit einigen Überlegungen zu einer anderen Empirie zu schließen.
1. Einfall und Motivation
Der Einfall, über szenisches Verstehen nachzudenken, ist Hans Karl Peterlini zu verdanken, der sich unter anderem der szenischen Theaterarbeit als einer performativen Möglichkeit phänomenologischer Lernforschung zuwendet. Er schreibt: „Das performative In-Szene-Setzen einer Vignette, einer Mikrohandlung daraus, erlaubt es, Erkenntnisse über die Vignette hinaus im Raum entstehen zu lassen und nachfühlbar zu machen, die Komplexität einer solchen Dynamik auf immer neue Facetten und Feinprozesse zu untersuchen – nicht als Ausdeutung des Geschehenen, sondern als Erweiterung der eigenen Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten.“ (Peterlini 2017, S. 53) Es leuchtet sofort ein, dass in solchen Inszenierungen der Sinnlichkeit des Erfahrens ein besonderes Gewicht zukommt. Nun kann man wirklich die Faust heben, am Saum des Pullovers zupfen, das Haar hinters Ohr streichen, die Augen zusammenkneifen, die Stimme erheben, Scham oder Zorn ausdrücken, mit dem Blick die Tischplatte durchbohren, gähnen, grinsen, schlendern, auf etwas oder jemanden zusteuern, ihn oder sie berühren, sanft oder heftig, räuspern und weiteres mehr. Dabei ist es beispielsweise etwas anderes, wenn ich gestisch kommentierend hüstele, oder meine Erkältung diese Geräusche verursacht. Diese Nuancen sind allein sprachlich nur sehr schwer einzufangen. Die Expressivität des Leibes ist hier überlegen. Zwischenleibliche Konfigurationen, etwa eine „betroffene Stille“, besänftigende oder abwehrende Berührungen oder Blicke, die sich kreuzen, können jedoch aus eigener Erfahrung nachempfunden werden. Akteur*innen konstituieren sich selbst, „indem sie auf die Situationen antworten, in die sie zugleich verstrickt sind“ (ebd.). Das Wörtchen indem ist wichtig, weil es uns hilft, bornierte Alternativen außer Kraft zu setzen, etwa jene von aktiv und passiv oder von Subjekt und Objekt. Keine der Alternativen rangiert in konkreten Kontexten vor den anderen. Sie realisieren sich durcheinander.
Solche Schauspiele sinnlicher Reinszenierungen setzen voraus, dass Vignetten selbst szenischen Charakter haben. Das wird von Forscher*innen mitunter intuitiv bemerkt. So spricht Johanna F. Schwarz von „Vignettenszenen“ und liest Vignetten im Hinblick auf heikle Stationen, die wie etwa Begrüßungsszenen (vgl. Schwarz 2018, S. 133 ff.) kritische Momente der Begegnung bedeuten, in der Zuschreibungen eine besonders große Rolle spielen und oft langfristige Folgen haben. Auch Horst Rumpf spricht bei seinen Vignettenlektüren von „Szenarien“ (Rumpf 2012, S. 93). Diesem szenischen Charakter der Vignetten muss durch ein besonderes Verstehen, von dem im zweiten Teil die Rede sein soll, Rechnung getragen werden.
Motiviert sind die Darlegungen durch die Beobachtung, dass Vignettenforscher*innen nicht selten im Vergleich zu anderen qualitativ empirisch Forschenden eine eher defensive Haltung einnehmen. Sie beugen sich damit einem Maßstab, der nicht selbstverständlich ist, nämlich dem Vorrang der Objektivität von Erkenntnissen, die sich in Aussagen überführen und damit als wahr oder falsch beurteilen lassen, vor Erfahrungen, die erzählt werden. Vielleicht mitunter unbemerkt schleichen sich dabei Hierarchien ein, deren Gültigkeit zweifelhaft ist. So herrscht etwa die Überzeugung, dass operationalisierbare und quantifizierbare Datenerhebungen eher wissenschaftliche Anerkennung verdienen als die Kunst des Erzählens, wie sie in Vignetten ihren Ort findet.1 Es stimmt: Daten sollen grundsätzlich unabhängig von denjenigen sein, die sie gesammelt haben. Aber: „Der Mensch, auch der Empiriker, muß ‚seine‘ Welt schon haben, wenn ihm ‚die‘ Welt gesprächig werden soll.“ (Blumenberg 1998, S. 39, Anm.) Vignetten würdigen diese Welthabe, diese Fusion mit der Welt und werden angesichts der Verankerung in unserer Lebenswelt geschrieben und gelesen. Deshalb bewahren sie die Spuren der nichttheoretischen situativen Bedingungen sowie die habituellen Investitionen der Schreiber*innen, auch wenn sie sich strikt auf die Deskription konzentrieren. Sie blicken nicht „hinter“ die Situationen, sondern auf sie. Sie vertiefen sich in die Oberfläche. (Vgl. Buchholz 2019, S. 420) Um es mit Gaston Bachelard zu formulieren: Sie schauen auf die Blume und erklären diese nicht aus dem Dünger. (Vgl. Bachelard 1994, S. 20) Im Wahrnehmen selbst sind Verstehensbereitschaften am Werk, die sich nicht isolieren lassen und von Ordnungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens in Beschlag genommen werden. Diese Konstellationen veranlassen, was überhaupt bemerkt wird und was unbeachtet bleibt. Vignettenschreiber*innen sind aus dieser Perspektive bewegt von einem szenischen Verstehen, das in ganz bestimmte Beziehungen eingebettet ist und dem eine letzte Gestalt versagt bleibt.
2. Szenisches Verstehen
Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt hat, der aber insbesondere durch die Analysen von Wolfram Hogrebe eine erhebliche philosophische Vertiefung erfahren hat, und zwar nicht nur für die Philosophie selbst, sondern auch für solche praktischen Wissenschaften wie die Medizin, die Jurisprudenz, aber eben auch die Erziehungswissenschaft, die er als „szenisch verankerte Bemühungen“ (Hogrebe 2009, S. 99) charakterisiert. In diesen Disziplinen spielt die Urteilskraft, die nicht zu automatisieren und nicht zu delegieren ist, eine entscheidende Rolle. Sie bleibt an die konkrete Situation gebunden. Ihre spezifische Leistung besteht darin, das Besondere unter der Hinsicht eines Allgemeinen zu fassen. Kant unterscheidet zwischen dem bestimmenden und dem reflektierenden Aspekt der Urteilskraft. Im ersten Fall ist die Anwendung von Regeln des Verstandes auf die Situation gemeint, im zweiten wird die komplizierte Lage angesprochen, dass das Allgemeine noch nicht gegeben und allererst aufzuspüren ist. Es wird im Suchen gefunden. Diese Urteilskraft oder dieses Taktgefühl sind nicht unter Regeln zu bringen. Sie zeichnen sich durch ihre Empfänglichkeit für die Fülle der Lebenswirklichkeit aus. Es ist ihnen eigentümlich, dass sie einen Zwischenraum zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit ausfüllen. Hogrebe erinnert immer wieder daran, dass dieses Zwischenreich eine enorme Herausforderung an eine adäquate sprachliche Artikulation bedeutet und dass es ohne Sprachbilder,