Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Группа авторов

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Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren - Группа авторов Erfahrungsorientierte Bildungsforschung

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Sinn verstehe. Dieses Verstehen beruht auf einem Vorverständnis oder Horizont und bewegt sich in einem Zirkel. Verstehen wird damit als semiotisches, textorientiertes und subjektzentriertes Schließen bestimmt.

      Dieser Tradition bleibt auch Gadamer verpflichtet, wenn er Verstehen als von der Tradition, dem geschichtlichen Überlieferungszusammenhang und der Wirkungsgeschichte bestimmt sieht (vgl. Gadamer 1990, S. 270 ff., 305 ff.). Aber Verstehen sei kein Besser-Verstehen – eine Anspielung auf Schleiermachers berühmte Formulierung –, sondern Anders-Verstehen (vgl. ebd., S. 302). Es besteht im Fremdverstehen die Gefahr, „das Andere im Verstehen ‚anzueignen‘ und damit in seiner Andersheit zu verkennen“ (ebd., S. 305). Fremdverstehen fungiert damit zwischen Eigenem und Fremdem. Diese Differenz wird allerdings von Gadamer schließlich hermeneutisch vermittelt im Sinne der Horizontverschmelzung. Horizontverschmelzung bedeutet die Verschmelzung des Verstehenden mit dem Verstandenen (vgl. ebd., S. 311). Das ist möglich, weil beide, das Subjekt des Verstehens wie das zu verstehende Subjekt/Objekt, am selben Zusammenhang einer Wirkungsgeschichte teilhaben. Die Geschichtlichkeit des Verstehens und die Autorität der Tradition verbürgen damit das Fremdverstehen. Im Fremdverstehen wird mit dem harmonistischen Modell der Verschmelzung die Andersheit und Fremdheit des Zu-Verstehenden egalisiert.

      Günter Buck übernimmt in seinem Konzept der Handlungshermeneutik Gadamers These, Hermeneutik nicht auf eine Methode zu reduzieren, sondern als Grundzug des menschlichen Lebens zu sehen (Buck 1981, 2019). Er rezipiert Husserls Intentionalitäts- und Horizontbegriff, geht aber mit Gadamer von der Einheit von Verstehen, Interpretieren und Auslegen aus (vgl. Brinkmann 2014). Hermeneutische Pädagogik ist nach Buck die Praxis des Verstehens als Verständigung. Sie basiert auf Tradition und Erfahrung. Daher ist Interpretation „prinzipiell nachträglich“ (Buck 1981, S. 34). Sie bezieht sich auf die Rekonstruktion tradierter oder erlebter Erfahrungen. Insofern geht Verstehen vom Subjekt aus und ist auf das Subjekt reflexiv rückbezogen. Verstehen ist daher auch Selbstbesinnung und Selbstreflexion. Verstehen basiert einerseits auf einer negativen Erfahrung des Nicht-Verstehens, die überhaupt den Verstehensprozess in Gang bringt. Andererseits wird im Verstehensprozess als Erfahrungsprozess eine „Assimilation des eigenen Horizontes des Interpreten (…) an denjenigen des Interpretandum“ (ebd., S. 51) vollzogen. Verstehen wird damit als Assimilation im Modus der Horizontverschmelzung gefasst sowie als reflexiver Akt, der durch eine negative Erfahrung der Befremdung ausgelöst wird und damit zu einer lernenden Erfahrung wird. Verstehen ist demnach mit Gadamer und Buck weder ein Sich-Hineinversetzen in die psychologische Struktur des Autors, kein Nacherleben oder Miterleben, auch kein Besser-Verstehen, sondern ein reflexives Sich-Verhalten, ein „Zuwachs an Erkenntnis“ (ebd., S. 27).

      Bucks hermeneutisch-phänomenologischer Ansatz wird insbesondere unter den Titeln ‚Negativität‘, ‚Umlernen‘ bzw. ‚Blickwechsel und Transformation‘, ‚exemplarische Deskription‘ prominent rezipiert (Buck 2019, Schenk/Pauls 2014, Schenk 2017, Meyer-Drawe 2008, Benner 2005). Buck gilt mittlerweile als Klassiker der Pädagogik (Brinkmann 2019c). Die Buck`sche Lern- und Beispieltheorie ist für Lippitz (2018) und Meyer-Drawe (2012) eine wichtige Referenz für die Herausarbeitung eines hermeneutisch-phänomenologischen Zugangs, in dem Hermeneutik und Phänomenologie ineinander übergehen.

      Die Praxis des Verstehens im hermeneutischen Modell wird bei Schleiermacher, Dilthey, Gadamer und Buck also als Explikation bzw. als Versprachlichung und Verbalisierung der Erfahrungen Anderer verstanden – analog der Auslegung von Texten. Die Einheit von Verstehen, Interpretieren und Auslegen verbürgt in der Hermeneutik letztlich ein Selbst-Verstehen, das sich am Modell des Textes und der Sprache orientiert (vgl. Brinkmann 2014, 2019a). Verstehen wird als Explikation eines verborgenen Sinnes gefasst, der sich in einer geschichtlichen Wirkungsgeschichte manifestiert und als Verbindendes eine „Verschmelzung“ des Eigenen mit dem Fremden ermöglichen soll.

      Der Primat der Sprache und des Gesprochenen in den Texten bedeutet einen Präsentismus des Zeichens (vgl. Derrida 1994). Von der Oberfläche gilt es auf eine „Hinterwelt“ (Nietzsche) des Zeichens mittels Interpretation und Auslegung zu gelangen. Verstehen ist damit vornehmlich Explikation einer verborgenen, latenten Bedeutung. Die Präsenz des Sichtbaren wird abgewertet zugunsten der Latenz des Unsichtbaren und Zu-Interpretierenden.

      Im hermeneutischen Verstehen wird der*die Andere zwar erfasst, aber nur als ein Spiegelbild des Eigenen. Das Verständnis des*der Anderen, seine*ihre Intentionen und Emotionen, sein*ihr Erleben und sein*ihr Erfahren bleiben letztlich auf hermeneutischem Weg unzugänglich. Verstehen als Besser- bzw. Anders-Verstehen (Dilthey, Gadamer) bzw. semiotisches oder einfühlendes Verstehen (Schleiermacher, Dilthey) kann radikale Andersheit (Levinas 1983) sowie die Fremdheit des*der Anderen nur insofern erfassen, als dass diese bagatellisiert, egalisiert oder sogar kolonialisiert wird (vgl. Lippitz 2019). Diese Problematik führt beispielsweise in der Ethnologie zu einer Kritik an der hermeneutischen Herangehensweise (vgl. Kalthoff 2006, S. 155, 165).

      Im Unterschied zum hermeneutischen Verstehen als Auslegen, Interpretieren und Rekonstruieren eines latenten Sinnes im Modus der Repräsentation insistiert die phänomenologische Zugangsweise auf die Gegebenheit der leiblichen und lebensweltlichen Erfahrung, der „natürlichen Einstellung“ – so Husserls problematische Formulierung. In dieser „natürlichen Erfahrung“ zeigt sich etwas – das Phänomen. Wie Heidegger im § 7 von „Sein und Zeit“ zur „phänomenologische[n] Methode“ (Heidegger 2001, S. 27 ff.) verdeutlicht, bezeichnet ein Phänomen etwas, das sich zeigt (vgl. ebd., S. 29). Das Phänomen (phainomenon) als das Erscheinende verweist gerade nicht auf etwas Verborgenes, Latentes, Symbolisches. Es ist vielmehr eben deshalb Phänomen, weil es oberflächlich ist (vgl. ebd., S. 36). Um sich der „Erscheinung“ des Phänomens zu öffnen, bedarf es der Einstellung, dass hinter oder unter der Oberfläche nichts ist: kein Wesen, kein Indikator oder Symptom für etwas Latentes. Phänomenologisches Sehen und Forschen geht also von der Oberflächlichkeit der Phänomene aus. Phänomenologie kann daher als Praxis des Sich-zeigen-Lassens bestimmt werden: „Das was sich zeigt, so wie es sich zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (ebd., S. 34).

      Die phänomenologische Einstellung ist aber nicht mit einem Positivismus zu verwechseln. Die Horizonthaftigkeit des Phänomens und die Struktur der Erfahrung verhindern zunächst, dass das Phänomen sichtbar ist. Der Zugang zum Phänomen ist ‚verstellt‘ oder ‚verschattet‘. Deshalb fordert der „Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung“ (ebd., S. 36, Hervorh. im Orig.). Diese „methodische Sicherung“ wird, wie ich zeigen möchte, mit der Deskription und der mitgängigen Reduktion erreicht. Gerade Interpretationen, Vormeinungen und Deutungen, auch Theorien, szientifisches und kulturelles Wissen sowie wissenschaftliche Modelle bewirken, dass sich das, was sich zeigen kann, nicht zeigt. Heidegger bemerkt dazu kritisch:

      Faktisch ist es […] so, dass unsere schlichtesten Wahrnehmungen und Verfassungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind. Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, sondern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht. (Heidegger 1994, S. 75)

      Die Vorstellung und Unterstellung von latentem Sinn, wie sie für die Hermeneutik und die rekonstruktiven Sozialwissenschaften leitend ist, führt nicht dazu, die Sachen besser oder anders oder überhaupt zu sehen (vgl. Brinkmann 2014, S. 212 ff.). Im Unterschied dazu geht die Phänomenologie von der „Sache selbst“ (Husserl) aus. Diese ist, so die naive Einstellung des*der Phänomenolog*in, in der Wahrnehmung gegeben. Sie lässt sich leibhaft erfahren. Heidegger verdeutlicht das am Beispiel eines Stuhls: „Ich sehe nicht ‚Vorstellungen‘ von dem Stuhl, erfasse kein Bild von dem Stuhl, spüre nicht Empfindungen von dem Stuhl, sondern sehe ihn schlicht – ihn selbst.

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