Mehrsprachigkeit und das Politische. Группа авторов

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die moderne Einsprachigkeit begünstigt hat: Eine Sprache, mit der eine große Gruppe von Menschen emotional verbunden und die gleichzeitig ausreichend standardisiert ist, um in den unterschiedlichsten Kontexten zu funktionieren, ermöglicht beispielsweise die Etablierung eines öffentlichen Raumes, von Demokratie und von Bildungsstandards. Und von der ÜbersetzungsindustrieÜbersetzung/translation profitieren der Buchmarkt wie überhaupt der überregionale Handel, die Diplomatie, das Recht, das Erziehungssystem, die Literatur. David GramlingGramling, David hat in seinen Arbeiten über die ‚Erfindung der Einsprachigkeit‘ die Verbindung von Muttersprachensemantik und Übersetzbarkeitsversprechen mit dem aus der angewandten LinguistikLinguistik übernommenen Begriff der „glossodiversityGlossodiversität/glossodiversity“ belegt (Gramling 2016: 31–36). GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity ist eine Form der Vorstellung von sprachlicher Vielfalt, die es für unproblematisch hält, ein und denselben Inhalt in verschiedenen IdiomenIdiom auszudrücken, die jeweils für sich als distinkte, wohldefinierte, in ihren Muttersprachlerinnen verkörperte Einheiten gelten.

      Natürlich werden die mit der modernen Idee der EinsprachigkeitEinsprachigkeit verbundenen Vorstellungen von Menschen, Sprachen und Gesellschaften damit im Prinzip nicht richtiger. Genau wie im Falle der NationNation handelt es sich bei der Einsprachigkeit, mit Naoki Sakai (2009) gesprochen, um ein Regulativ im Kantischen Sinne des Wortes: eine kontrafaktischeKontrafaktikkontrafaktisch Annahme, die aber ansonsten womöglich ungerichteten Prozessen Orientierung bietet – so wie das Dogma der Gleichursprünglichkeit im Falle der europäischenEuropaeuropäisch Gesetzgebung. Sprachen sind eben keine distinkten und wohldefinierten Einheiten, die gleichwohl qua ÜbersetzungÜbersetzung/translation ineinander überführt werden können. Sprechen ist nicht notwendigerweise Sprechen in einer Sprache, vielmehr sind im SprachgebrauchSprachgebrauch immer zugleich zentripetale und zentrifugale Kräfte am Werk. Ohne die zentripetalen Kräfte wäre StandardisierungStandardStandardisierung und damit ein Verständnis unmöglich; aber ohne die Zentrifugalkräfte gäbe es keine Sprachentwicklung und damit keine Anpassung an neue Gegebenheiten. GramlingGramling, David hat für die schiere Vervielfältigung der Ausdrucksmöglichkeiten im Sprechen, also die ständige Entwicklung neuer Arten und Weisen, Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erzeugen, den Begriff der „semiodiversitySemiodiversität/semiodiversity“, SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity, geprägt. Und doch hat die Vorstellung der GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity, auch wenn sie im Prinzip die Realität der Sprachproduktion nicht trifft, diese Realität dennoch verändert. Die Sprachen, die wir größtenteils verwenden, sind tatsächlich sehr stark standardisiert und voneinander abgegrenzt. Man kann relativ einfach erkennen, was z.B. ein wohlgeformter Satz der deutschenDeutschlanddeutsch Sprache ist; Fehler lasse sich recht genau und eindeutig konstatieren, auch wenn man ihn womöglich als rhetorische Figur lesen kann (dazu Martyn 2004).

      Bringt man diese Beobachtungen mit den eingangs angestellten Überlegungen zur SynchronieSynchronie zusammen, so zeigt sich, dass die Funktionalität der modernen GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity damit zusammenhängt, dass sie einander äquivalent geltende sprachliche Ressourcen gleichzeitig präsent hält bzw. zumindest diesen Eindruck verschafft. Standardisierte Möglichkeiten des Ausdrucks sind sozusagen weltgesellschaftlich anwendbar. Die eigentliche Crux liegt darin, dass diesem SynchronizitätsSynchronieSynchronizität- und Standardisierungbedarf jener Bedarf nach sprachlicher Erneuerung und Anpassungsfähigkeit zuwiderläuft, den die Neuzeit eben auch hervorbringt.

      Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tatsache, dass die Semantik der GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity die Spannung zwischen (postulierter) synchroner Sprachstruktur und kreativer Sprachentwicklung unsichtbar macht, politischePolitik/politicspolitisch/political Relevanz. Der blinde Fleck der modernen Sprachauffassung erschwert den bewusst produktiven Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt im Sinne von SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity. SprachpolitikSprachpolitik vollzieht sich dann offiziell oder zumindest offiziös im Namen von EinzelsprachenEinzelsprache (von der Schule bis zur sogenanten auswärtigen KulturpolitikPolitik/politicsKulturpolitik und zur Académie Française) und überlässt die ‚wilde‘ Sprachfortbildung Populärkultur, Literatur und Unternehmertum. Diese Marginalisierung von SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity hat sehr weitreichende Folgen, von der Benachteiligung nicht-muttersprachlichen Sprechens in Schulsystemen bis hin zum Umgang mit Anderssprachigkeit in der MedienöffentlichkeitMedien.

      Die literarischen Sprachpolitiken, die HerderHerder, Johann Gottfried, AlunānsAlunāns, Juris und BaronsBarons, Krišjānis entfalten, sind letztlich auch Symptome des Widerstreits zwischen offizieller Glossidiversität und inoffizieller, gleichwohl aber essentieller SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity. Herder versucht, ihn durch das Konzept einer inner-einzelsprachlichen Kreativitätssteigerung qua ÜbersetzungÜbersetzung/translation (im weitesten Sinne) zu lösen. Alunāns geht einen ähnlichen Weg, wenn er die lettischeLettland/Latvialettisch Sprache in der Auseinandersetzung mit moderner Anderssprachigkeit erneuern möchte. Barons hingegen verfolgt einen anderen Impuls Herders weiter, indem er aus fremdFremdheitfremd werdenden ‚eigenen‘ Sprechweisen eine im Grunde neue NationalspracheNationNationalsprache generiert und mit dem Mythos eines nationalenNationnational Lebens verbindet. Damit konnte die SynchronisierungSynchronieSynchronisierung der lettischenLettland/Latvialettisch NationNation natürlich nicht abgeschlossen sein. Die Auseinandersetzung um Fest- und Fortschreibung der lettischenLettland/Latvialettisch dainasDainas dauert vielmehr bis heute an. Das aber wäre ein anderes Thema.

      Literaturverzeichnis

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      Dembeck, Till (2019). Dada. Eine Kulturpolitik des Affekts? Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada – mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure. In: Marion Acker/Fleig, Anne/Lüthjohann, Matthias (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr, 49–73.

      Dembeck, Till/Parr, Rolf (Hrsg.)

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