Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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zerstörte die »Einheit« der letzten verbliebenen Heimat der Christenheit.21 Die Reformation löste die ideelle und rechtliche Einheit der einen christlichen Kirche auf.

      Während das alte Europa als Heimat der römischen Kirche in Frage gestellt wurde, eroberte es neue Kontinente. Seit dem 16. Jahrhunderts ist das lateineuropäische Christentum, auch in seiner konfessionellen Diversität, eine global expandierende Religion. Die durch die Reformation definitiv zerstörte kirchliche Einheit des Europas der Christenheit war freilich auch vorher kein monolithisch geschlossener Untertanenverband des römischen Pontifex gewesen, sondern hatte aus einer Vielzahl eigener Einheiten bestanden, die je unterschiedlich lockere Bindungen an und dichte Beziehungen zur Kurie unterhalten hatten. Die Nationalstaaten traten nicht erst infolge der Reformation als politische Einheiten hervor, sondern hatten bereits im 14. und 15. Jahrhundert, etwa in Spanien, Frankreich und England, deutliche Konturen gewonnen; auch im Verhältnis zum Papst verfolgten sie eine je eigene Politik. Dennoch hatten bis zur Reformation kulturelle Selbstverständlichkeiten existiert, die nun in Frage standen oder aufgelöst wurden: Die Präponderanz der lateinischen Sprache in allen die Religion und die Wissenschaft betreffenden Fragen wich einer sprachkulturellen Diversifizierung. In den sich der Reformation anschließenden Ländern wurden die Gottesdienste nun in aller Regel in den Volkssprachen abgehalten; da die Predigt ins Zentrum des Gottesdienstes rückte, die Sakramente Taufe und Abendmahl auf die persönliche Aneignung der Glaubenden hin ausgelegt waren und der Gemeindegesang als wesentliches Element der religiösen Partizipation der Gemeindeglieder galt, kam die Verwendung einer anderen als der Sprache, die »die mutter ihm hause, die kinder auff der gassen, de[r] gemeine man auff dem marckt« verwendeten – ihnen schaute der Wittenberger Reformator »auff das maul«22 –, nicht in Betracht. Die religiöse Aufwertung der Volkssprache im Zuge der Reformation, die eine Vielzahl an nationalsprachlichen Bibelübersetzungen zunächst in Europa, à la longue weltweit, angeregt und schließlich auch die römische Kirche im Ganzen dazu veranlasst hat, ihre Fixierung auf das Lateinische und Römische, auf latinitas und romanitas, zu relativieren, schließlich gar die religiöse Diffamierung und Inkriminierung der volkssprachlichen Bibel aufzugeben23 und die etwa in Spanien bereits vor der Reformation breit einsetzende vernakulare Literaturproduktion sukzessive zu intensivieren, hat unabsehbare kulturelle Wirkungen gezeitigt, die Entstehung nationaler Literaturen begründet oder befördert und Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet, die dem mittelalterlichen Christentum so nicht bekannt waren. Die religiös legitimierte Aufwertung der Volkssprachen im Zuge der Reformation trug mittelbar, in einem jahrhundertelangen Transformationsprozess, dazu bei, dass diese wie ein Sauerteig alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzten und auch die Wissenschaft eroberten. Die Ausbildung und -formung nationaler Christentumsvarianten infolge der Reformation hat schließlich die politischen Nationalisierungsprozesse beeinflusst, ja forciert. Die für die mittelalterliche Christenheit prägenden transnationalen Momente einer lateinischen ›Einheitskultur‹24 verloren auch in den dominant katholisch bleibenden Ländern Europas nach und nach ihre universelle Geltung. Das Europa der konfessionellen Diversität und der nationalen Vielfalt und Konkurrenz, dessen Wurzeln ins Mittelalter zurückreichen, ist durch die Reformation dynamisiert worden.

      Für die Generation der Reformatoren und ihrer Nachfolger war das Lateinische die allgemeine Verkehrssprache, die lingua franca der wissenschaftlichen und der ›internationalen‹ Kommunikation. Doch im Zuge des Humanismus, freilich intensiviert durch die kulturellen Herausforderungen infolge der Reformation, wurde die ständige Übersetzung von der Volkssprache ins Lateinische und umgekehrt zu einer selbstverständlichen Praxis. Anders als für einen mittelalterlichen Gelehrten, der sich in Bezug auf die seinen »Beruf« betreffenden Sachverhalte ganz in einer lateinischen Sprachwelt bewegte,25 wurde die Bilingualität zu einer grundlegenden kulturellen Wirklichkeit all derer, die professionell zu schreiben und zu lehren hatten. Unter den europäischen Reformatoren gab es kaum einen, der nicht sowohl in Latein als auch in mindestens einer Volkssprache publiziert hätte. Die langfristigen kulturellen Wirkungen der Vernakularisierung einerseits, der Bilingualisierung der Gelehrten andererseits, sind unübersehbar. Die Reformation hat diese Prozesse entscheidend forciert und wesentlich verursacht.

      In der mittelalterlichen Christenheit waren transnationale Rechts- und Organisationsstrukturen wirksam gewesen, die die Reformation bekämpfte und die in den Teilen Europas, in denen sie siegte, obsolet wurden. Das Europa der Wallfahrer erlitt Einbußen, selbst wenn man weiterhin bemerkenswert viele Reisende aus protestantischen Ländern in Rom oder im Heiligen Land antreffen konnte.26 Das Europa der Orden, das angesichts der Präsenz insbesondere der Bettelmönche an den Universitäten auch das gelehrte Europa tiefgreifend geprägt hatte, existierte fortan primär in der katholischen Hemisphäre. Dies betraf in analoger Weise auch das kanonische Recht, das bisher überall gegolten hatte – oder jedenfalls gelten sollte –, wo der Papst als Haupt der Kirche anerkannt war.27 Durch die Reformation aber wurde dieser europäische Rechtsraum der Vormoderne irreparabel beschädigt. Denn selbst dort, wo man bestimmte Kirchenverfassungselemente der römischen Tradition, etwa die Metropoliten bzw. Erzbischöfe in der schwedischen und der englischen Kirche, beibehielt oder Teile der lateinischen Liturgie weiterhin pflegte, auch Formen klösterlichen Lebens partiell anerkannte28 und Traditionen des kanonischen Eherechts revitalisierte, wie in einigen lutherischen Kirchen im Reich,29 geschah dies aufgrund eigenmächtiger Entscheidungen der weltlichen Obrigkeiten oder auf den Rat ihrer theologischen oder juristischen Experten hin; dieser selektive Umgang mit bestimmten Rechtstraditionen des kanonischen Rechts aber setzte voraus, dass man sich souverän über die päpstliche Jurisdiktionskompetenz als solche hinwegsetzte und dem Stellvertreter Christi eben keine selbstverständliche Autorität mehr zugestand. Für all die elementaren Belange im Leben jedes Christenmenschen, die – jedenfalls prinzipiell – durch das kanonische Recht geregelt waren – etwa die religiösen Pflichten der jährlichen Beichte und Kommunion, die sakramentale Versorgung von der »Wiege« bis zur ›Bahre‹, die Regulierung von Ehekonflikten, das Verhältnis zur Pfarrgemeinde, die Geltung von Gelübden – waren neue Bestimmungen zu definieren bzw. Ersatzlösungen in der Zuständigkeit der jeweiligen weltlichen Obrigkeiten zu finden. Der evangelische Christ Europas wurde infolge der Verstaatlichungsdynamik, in die die Religion geriet, in einem umfassenderen Sinne ›Untertan‹, als es seine Vorfahren je gewesen waren.

      Doch die Strukturen des alten Christenheitseuropas wurden durch die Reformation nicht nur forciert aufgelöst – auch Konturen eines evangelischen Europas zeichneten sich stetig ab. Recht bald nach dem Ausbruch des Ablassstreites, verstärkt dann aber im Nachgang der Leipziger Disputation, erhöhte sich die Zahl der Wittenberger Studenten sprunghaft. Auch der Anteil der Ausländer wuchs rasch; Wittenberg, das Örtchen am »Rande der Zivilisation«30, wurde seit den 1520er Jahren für etwa ein halbes Jahrhundert zur frequentiertesten und hinsichtlich seiner Besucherschaft ›internationalsten‹ Universität Deutschlands, ja Europas. Zwischen 1516 und 1520 war die Zahl der jährlichen Immatrikulationen in Wittenberg explosionsartig angestiegen, um über 400, auf 579;31 andere Universitäten wie Heidelberg, Köln, Erfurt, Rostock, Greifswald, Ingolstadt, Freiburg und Tübingen hatten massive Einbrüche zu verzeichnen und waren zeitweilig von Schließungen bedroht. Studenten aus Frankreich, England, Italien, Böhmen, Ungarn, besonders aber Skandinavien und dem Baltikum suchten in Wittenberg die »wahre« reformatorische Lehre aus erster Hand kennenzulernen. Insbesondere Melanchthon, der eine ausstrahlende Lehrtätigkeit in der Philosophischen ebenso wie in der Theologischen Fakultät entfaltete, erwies sich als überaus attraktiver Lehrer. 32 Bei ihm konnte man das theologisch-philologische Handwerkszeug eines evangelischen Schriftauslegers in nachvollziehbarerer Form lernen als bei dem genialisch-assoziativen, charismatischen Exegeten Luther, dessentwegen die meisten kamen, ihn aber, wie es scheint, in der konkreten Begegnung weniger als Professor denn als Prediger schätzten.

      Ähnliche Strahlungswirkungen, wie Wittenberg sie auf das Europa der evangelischen, später primär der konfessionell-lutherischen Christenheit ausüben sollte, gingen seit 1559 von der Akademie Johannes Calvins und Theodor Bezas in Genf aus. Sie wurde für den europäischen Calvinismus genauso wichtig, wie es Wittenberg für das europäische Luthertum war. Seit dem späteren 16. Jahrhundert

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