Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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zumeist handelte es sich dabei um Katechismen, Übersetzungen des Neuen Testaments oder der ganzen Bibel.

      Die sprachkultur- und bildungsgeschichtlichen Folgen der Reformation sind immens. Religiös relevante Texte in der eigenen Muttersprache lesen oder sich aneignen zu können – auch der evangelische Gemeindegesang blieb ein Attraktionsmoment allererster Güte! – implizierte zugleich, verstehend teilzunehmen. Mit der Reformation ging ein Ausbau des Schulwesens und eine verstärkte Bemühung um die Alphabetisierung der Bevölkerung einher.42 Da den Vätern und Müttern in der evangelischen Hausgemeinde eine zentrale religiöse Vermittlungsaufgabe zuerkannt wurde, galt es als wünschenswert, ja notwendig, dass sie lesen und schreiben konnten. Die in der Volkssprache gehaltenen evangelischen Predigten eröffneten andere Möglichkeiten des Dabei- und Involviertseins als die Teilnahme an einer lateinischen Messe. Intensivierte Bemühungen um die volkssprachliche Predigt, die Katechese, die religiöse Literaturproduktion auch im katholischen Bereich dokumentieren, dass die konfessionelle Konkurrenz das ›Geschäft‹ belebte und mittelbar die lateineuropäische Zivilisation im Ganzen veränderte.

      Dort, wo der Protestantismus die dominierende Konfession wurde, bildete er eine besondere Nähe zur staatlichen Macht aus. Dies ergab sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit daraus, dass die weltlichen Obrigkeiten als »Notbischöfe« oder »supreme heads« an die Spitzen der Kirchentümer getreten waren. Diese notorische Staatsnähe des Protestantismus hat vielfach dazu geführt, dass sich die Religion gegenüber den Erwartungen, die von Seiten der Politik oder der Gesellschaft an sie gestellt wurden, als besonders ›elastisch‹, ja opportunistisch erwies. Die Bereitschaft, sich im 19. Jahrhundert unterschiedlichen Nationalismen zu akkommodieren, war ein Moment der ›volkstümlichen‹ Inkulturation, die allen konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums, besonders aber den protestantischen, eigen war. In Kontexten, in denen sich Protestanten in einer minoritären Situation befanden, konnten sie durchaus Potentiale alternativen Denkens gegenwärtig halten; für die protestantischen Sekten, die nach der noch immer anregenden Idee Troeltschs43 früher und nachdrücklicher als andere die Grundsätze der allgemeinen Religionsfreiheit, der Toleranz und des Gewaltverzichts propagierten, war dies in starkem Maße der Fall.

      Der Weg zu einem befriedeten Neben- und einem toleranten Miteinander der Konfessionen war im nachreformatorischen Lateineuropa lang. Er wurde einerseits dadurch geprägt, dass staatliches Recht den Konfessionen Grenzen setzte und Regeln des Miteinanders definierte, andererseits dass die Konfessionen selbst eigene Wahrheitsansprüche zu relativieren und das hohe Gut einer allgemeinen Religionsfreiheit zu affirmieren begannen. Im 17. Jahrhundert fingen einzelne Territorialstaaten in Deutschland an, Migranten fremder Konfessionen aufzunehmen; auch Täufern, die als fleißige Handwerker galten, gewährte man immer häufiger Schutz. Die Erfahrungen zeigten, dass ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Konfessionen, also multikonfessionelle Gesellschaften, im Rahmen klarer rechtlicher Regeln funktionierte. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde die bürgerliche Gleichstellung der Juden gesellschaftlich durchgesetzt und rechtlich fixiert. Im Laufe des späten 19. und des 20. Jahrhunderts wurde die durch staatliches Recht verbürgte allgemeine Religionsfreiheit ein Grundelement des freiheitlichen Rechtsstaates und der überstaatlichen Grund- und Menschenrechte.

      Toleranz44 als Anerkennung der Existenzberechtigung einer anderen Religion war das Ergebnis eines Lernprozesses; in der lateineuropäischen Christentumsgeschichte war dieser durch die Erfahrungen von mannigfachem Leid und abgründiger Gewalt im Namen der Religion geprägt. Die Reformation hat diese Entwicklungen z. T. freigesetzt und das Ihre dazu beigetragen, dass ein westlicher Zivilisationstypus entstand, der nicht mehr auf der Vorstellung basierte, dass eine Gesellschaft nur auf der Grundlage einer einheitlichen oder dominierenden Religion bestehen könne. Dieses tolerante, multireligiöse Gesellschaftsmodell hat sich bewährt, steht heute aber vor neuen Herausforderungen. Die Geschichte der Reformation ist ein Musterbuch der Spannungen, Widersprüche, Evolutionen, Fort- und auch Rückschritte der lateineuropäischen Zivilisation auf dem Weg zu toleranten, liberalen Gemeinwesen. Um unsere westliche Kultur im Horizont der Globalisierung weiterzuentwickeln, dürfte die Kenntnis ihrer Anfänge hilfreich sein.

       Europa – des christlichen Glaubens symbiotische Durchgangsstation

       Dorothea Wendebourg

      Die Aufgabe, die mir zugewiesen wurde, lautete, die Vorträge der Kollegen Leppin und Kaufmann zu kommentieren und eine weiterführende Bilanz zu ziehen. Ich will diese Aufgabe so erfüllen, dass ich, in Zustimmung und Abgrenzung von den beiden Vorträgen meinen Ausgang nehmend, aber dann und wann auch freihändig, in 16 Punkten nach einer ausführlichen Vorbemerkung einige eigene Überlegungen zum Thema entwickele.1

       Vorbemerkung

      Europa in der Antike, Europa in der Reformationszeit, Europa 2017 – das ist, wie wir alle wissen, eine Äquivokation. Das Europa, von dem wir heute sprechen, die geographische Fortsetzung Asiens diesseits des Urals, ist jenen beiden vergangenen Epochen nicht als spezifischer, zusammengehöriger Raum präsent. Namentlich in der Antike wurde, wie Kollege Leppin zu Recht hervorhob, ein ganz anderer geographischer Sektor, das von ihm »Euromediterraneum« genannte europäisch-afrikanische Mittelmeergebiet mit seiner nahöstlichen Fortsetzung, als zusammengehöriger Raum gesehen und erfahren. Aber auch das politische Europa sei es des Europarats oder der Europäischen Union ist weit von dem entfernt, was in der Antike oder im 16. Jahrhundert mit jenem Wort bezeichnet wurde. Hätte man einem Spanier des 16. Jahrhunderts erklärt, er gehöre in einer spezifischen Weise mit Finnland, mit dem seine heutigen Nachfahren in der Europäischen Union verbunden sind, und mit dem Moskowiterreich, mit dem sie im Europarat sitzen, zusammen, hätte er gewiss erstaunt den Kopf geschüttelt. Das aber heißt, wir fragen nach der Bedeutung des Christentums mit dem Blick auf dasjenige geographisch-politisch-kulturelle Ensemble, das wir heute Europa nennen. Das setzen wir im Hinterkopf voraus, auch wenn wir uns Epochen zuwenden, die dieses Europa selbst noch gar nicht kannten. Und wir tun es nicht ohne Grund, weshalb die Rede von »Europa« in den anfangs genannten unterschiedlichen Epochen doch nicht schlechterdings äquivok ist. Denn entscheidende Anstöße für die Herausbildung des heutigen Europas gingen von Gebieten aus, die zu diesem Kontinent gehören, gleichgültig, ob man sie zu jener Zeit einem »Europa« zuordnete oder nicht – für die Antike Griechenland, für die Reformationszeit das Gebiet nördlich der Alpen –, und sie haben hier besonders nachdrücklich und langfristig, wenngleich in durchaus unterschiedlichen Weisen gewirkt.

      Aus dieser Perspektive eines Anachronismus sehenden Auges ergeben sich drei Differenzen zum Programm Leppins. Sie alle haben mit der entscheidenden Weichenstellung zu tun, die sein Programm bestimmt: Seine Leitfrage ist die nach der »Wirkungsgeschichte« christlicher Erbschaften aus der Antike, und diese noch einmal zugespitzt auf die Frage ihrer »Moderneaffinität«. Abgesehen davon, dass der Maßstab für ein solches Urteil keineswegs auf der Hand liegt, birgt die Frage nach der Modernenähe historischer Phänomene immer die Gefahr, sich zirkulär auf bestimmte Phänomene zu konzentrieren, die ihr besonders entgegenzukommen scheinen. Das heißt zum einen, dass wichtige religiös-kulturelle Prägungen, die das Christentum in die von ihm erfasste antike Welt einbrachte, außerhalb des Blickfeldes bleiben, weil sie unter dem Gesichtspunkt der Moderne irrelevant zu sein scheinen. M. E. muss aber auch von solchen »nichtmodernen« Errungenschaften die Rede sein, wenn es um das Christentum und die antike Welt geht.

      Zum anderen legt jedenfalls für den modernen Westmitteleuropäer die Frage nach der Moderneaffinität eine geographisch-sprachliche Beschränkung nahe, nämlich die auf den Raum seiner eigenen Vorgängertradition im engeren Sinne, auf Lateineuropa. Auf Lateineuropa will sich Leppin denn auch beschränken. Dabei bildet dieses Lateineuropa nur einen Teil, zunächst den weit weniger bedeutenden Teil des antiken Euromediterraneums, und seine Nachfolgestaaten sind auch nur ein Teil des Europas von 2017. Freilich setzen sich die historischen Tatsachen

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