Christentum und Europa. Группа авторов

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Christentum und Europa - Группа авторов Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)

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über Konfessionsgrenzen hinweg. Doch das Europa der Studenten gab es vor und nach der Reformation nur für eine besonders ambitionierte Minderheit; das Gros der jungen Akademiker verbrachte seine Studienzeit ganz überwiegend an seiner Landesuniversität; die Territorialisierung und ›Verstaatlichung‹ der Universitäten, ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Landesherrschaft, erhielt durch die Reformation einen kräftigen Schub.33

      Hinsichtlich der interterritorialen und der zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb Europas blieb die Reformation gleichfalls nicht folgenlos. Immer wieder entstanden politische Allianzen und Kooperationen aufgrund konfessioneller Zugehörigkeiten oder gemeinsamer konfessioneller Gegnerschaften. Dies galt etwa für Kontakte, die Heinrich VIII. nach seiner Trennung von Rom (1534) zum Schmalkaldischen Bund suchte,34 für den Zusammenschluss der reformierten Kurpfalz mit den calvinistisch geprägten Provinzen der Niederlande, für antihabsburgische Koalitionspläne Franz I. und des reformierten Königs von Navarra vor seiner Konversion zum katholischen König Heinrich IV. von Frankreich und für dynastische Verbindungen zwischen dem dänischen und dem schwedischen Adel zu protestantischen Geschlechtern im Reich. Auch militärische Interventionen konnten nach und infolge der Reformation konfessionell motiviert werden. Die politischen Interaktionen und diplomatischen Verbindungen innerhalb und – aufgrund kolonialgeschichtlicher Zusammenhänge – auch außerhalb Europas haben sich infolge der Reformation grundlegend verändert.

      Ein Europa der Händler und Kaufleute gab es vor wie nach der Reformation. Allerdings war der Besuch der an vielen Orten Europas stattfindenden Messen von den religionskulturellen Umweltbedingungen des jeweiligen Standorts mit bestimmt, z. B. der Geltung der Heiligenfeste, des Gregorianischen oder des Julianischen Kalenders, auch der Einhaltung bestimmter religiöser Regeln im öffentlichen Raum. Unter den europäischen Handelsregionen war die levantinische weitgehend von nicht-evangelischen Händlern dominiert; der die Nord- und Ostseeländer umspannende Wirtschaftsraum wurde vor allem von hansischen Kaufleuten bestimmt, denen im Laufe des 16. Jahrhunderts Niederländer und Engländer den Rang abliefen. Im Atlantikhandel, der vor allem von Lissabon, Sevilla, Antwerpen und Amsterdam aus betrieben wurde, überschnitten sich nationale und konfessionelle Grenzen und Konkurrenzen mannigfach.

      Die konfessionellen Differenzen, zu denen es infolge der Reformation gekommen war, beeinflussten das Leben der Menschen, auch der Kaufleute, und sie wirkten ggf. auch auf das Konsumverhalten zurück – man denke nur an die Wirkungen, die die Abschaffung der Fastenvorschriften in den evangelischen Ländern zeitigten. Doch wenn es Geld zu verdienen galt, folgten schon die Europäer der Vormoderne ihrem Erwerbstrieb. Insofern sind die Wirkungen der Reformation in ökonomischer Hinsicht eher indirekter Art gewesen; in Form von Produktionssteigerungen und Prosperitätsgewinnen aufgrund der Abschaffung zahlreicher Feiertage traten sie allerdings direkt zutage. Die gegenüber wucherischen Zinspraktiken, dem Fernhandel, Devisenabfluss ins Ausland, Luxusimporten, auch der hemmungslosen Profitmaximierung, also Grundzügen des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems, ausgesprochen kritischen Urteile der meisten Reformatoren, allen voran Luthers,35 wird man in ihren Wirkungen nicht überschätzen dürfen. Das Europa der Händler folgte vor wie nach der Reformation primär eigenen Handlungslogiken.

       4.

      Gewiss ist es ein Akt von Verwegenheit, einige allgemeinere Bemerkungen zur historischen Bedeutung der Reformation im Ganzen zu formulieren. Und doch dürfte das, zumal im Kontext evangelischer Theologie, unverzichtbar sein.36

      Die Reformation hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die lateineuropäische Geschichte und deren globale Wirkungen. Mit der Ausbreitung der lateineuropäischen Zivilisation im Zuge der geographischen Entdeckungen, des Welthandels und der kolonialen Expansion kamen die konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums auch in Asien, Australien, Afrika und Amerika zur Geltung. Auf den außereuropäischen Aktionsfeldern setzte sich die kontinentaleuropäische Konfessionskonkurrenz in direkter oder indirekter Form fort, konnte aber auch Formen der Interaktion und Kooperation annehmen, die in der »Heimat« undenkbar waren.37 Die globale Ausbreitung der lateineuropäischen Christentumsvarianten ist bis heute ungebrochen, der Protestantismus eine global rasant wachsende Religion.

      Alle nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums sind in der einen oder anderen Weise Erben der Reformation.38 Die Organisationsformen der nicht-katholischen Christentumsvarianten sind denkbar vielfältig; sie reichen von aktualistisch-geistgetriebenen Vergemeinschaftungen pfingstlerischer oder quäkerischer Provenienz bis hin zu den episkopalistischen, staatskirchlichen oder staatsanalogen kirchlichen Institutionen in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland.

      Die nicht-katholischen Gestalten des lateinischen Christentums werden üblicherweise unter dem Begriff des »Protestantismus« (protestantisme; protestantismo; protestantism) subsumiert.39 Eine historisch reflektierte Sprachregelung sollte sich bewusst halten, dass die als kirchentrennend empfundenen konfessionellen Differenzen etwa zwischen Lutheranern und Reformierten im 16. und 17. Jahrhundert in der Regel ähnlich schwer wogen wie die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber der Papstkirche. Erst seit dem 18. Jahrhundert kam die Tendenz auf, den Protestantismus als einen inneren Zusammenhang zwischen Luthertum und Reformiertentum wahrzunehmen und für grundsätzlich ›moderner‹ zu halten als den Katholizismus.40 Das dieser Perspektive zugrundeliegende Fortschrittsdenken war dem älteren Protestantismus des konfessionellen Zeitalters fremd. Im Zuge des späteren 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts führte es dazu, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen, denen man ›modernisierende‹ Wirkungen zuschrieb – demokratisch-partizipative Entscheidungsprozesse etwa, kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, Individualisierung, Emanzipation durch Bildung, Toleranz, Menschenrechte – eine besondere Nähe zum Protestantismus zuzuerkennen und den Katholizismus als notorisch rückständig einzustufen. Eine definitive Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen westlichen Zivilisation dürfte problematisch sein; auch eine kausale Ableitung der modernen westlichen Zivilisation allein aus der Reformation kommt nicht in Betracht. Gleichwohl ist es unabweisbar, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der religionsgeschichtlichen Entwicklung Lateineuropas seit dem 16. Jahrhundert und den Einstellungen und Werten der westlichen Moderne besteht.

      Die historisch primären gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Folgen der mit der Reformation eingetretenen Pluralisierung des lateinischen Christentums bestanden nicht in der Relativierung, sondern in einer Intensivierung religiöser Bindungen.41 Den konfessionellen Christentümern des Luthertums, des Reformiertentums und des römischen Katholizismus war gemeinsam, dass sie größte Anstrengungen unternahmen, um ihre Glieder religiös zu unterweisen, sie also zu katechisieren, ihnen einen disziplinierten Lebensstil nahezubringen und sie vor den Versuchungen und Herausforderungen der konfessionellen Konkurrenz zu warnen. Die Pluralisierung des lateinischen Christentums infolge der Reformation, aus der alternative Varianten des Christlichen hervorgingen, hat zunächst primär Intoleranz und eine Kultur der rechtlich fixierten oder mentalen Abgrenzung befördert und eine sich religiös legitimierende Gewaltbereitschaft freigesetzt, die in den Religionskriegen des konfessionellen Zeitalters explodierte. Die wachsende Konfliktdynamik infolge der konfessionellen Pluralisierung hat mittelbar allerdings dazu beigetragen, Strategien der Einhegung und der Pazifizierung, der Tolerierung des Unvereinbaren, der Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche und des interkonfessionellen Austausches plausibel zu machen und in rechtlichen Formen zu fixieren. Auf dem Boden des lateinischen Christentums gedieh auch die Religionskritik wie nirgends sonst.

      Die intensivierte Aneignung der konfessionellen Christentumsvarianten durch Katechismen und Predigten, Erbauungs- und Gebetbücher zeitigte mittelbar fundamentale bildungsgeschichtliche Wirkungen. Diese werden in den protestantischen Territorien und Ländern in ihrer gesellschaftlichen Breite aufs Ganze gesehen früher wirksam als in den katholischen – eine Folge der konsequenten religiösen Aufwertung der Volkssprache und der Eröffnung von Partizipationsmöglichkeiten im Gottesdienst. In einigen Sprachen gehen die ersten erhaltenen oder gedruckten

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