Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Sicherlich hatte Quenu hier Lust zur Küche bekommen. Nachdem er es mit allen Handwerken versucht hatte, kehrte er – als sei es vom Schicksal bestimmt gewesen – wieder zu dem Geflügel zurück, das am Spieße gebraten wird, und zu dem feinen Safte, nach dem man sich die Finger ablecken muß. Anfänglich fürchtete er, seinen Bruder dadurch zu ärgern, der ein bescheidener Esser war und von den leckeren Bissen mit der Mißachtung eines Menschen sprach, der nicht weiß, was gut ist. Als er später sah, wie Florent aufhorchte, wenn er ihm irgendein zusammengesetztes Gericht erläuterte, gestand er ihm seinen Beruf und trat in den Dienst einer Gastwirtschaft. Seither war das Leben der beiden Brüder geregelt. Sie bewohnten weiter die Stube in der Royer-Collard-Straße, wo sie sich jeden Abend fanden, der eine mt fröhlichem, gerötetem Gesichte von seinen Bratöfen heimkehrend, der andere mit der trübseligen Miene eines armen Lehrers. Florent behielt seinen schwarzen Rock und vertiefte sich in die Aufgabenhefte seiner Schüler, während Quenu, um es sich behaglich zu machen, seine Schürze, seine weiße Weste und seine Küchenjungenmütze anlegte und sich damit die Zeit vertrieb, auf dem Zimmerofen irgendeinen Leckerbissen zuzubereiten. Manchmal lachten sie, wenn sie einander so sahen, der eine ganz weiß, der andere ganz schwarz. Die große Stube schien halb traurig und halb lustig von dieser Düsterheit und diesem Frohsinn. Noch niemals hatten zwei so verschieden geartete Leute sich so gut zusammen vertragen. Mochte der eine, von der Fieberglut des Vaters verzehrt, noch so sehr abmagern, und mochte der andere als würdiger Sohn des Normannen noch so dick werden: sie liebten sich in ihrer gemeinsamen Mutter, in dieser Frau, die nichts als liebevolle Hingebung gewesen.
Sie hatten in Paris einen Verwandten, einen Bruder ihrer Mutter namens Gradelle, der in der Pirouette-Straße, nahe bei den Hallen, einen Wurstladen hielt. Er war ein dicker Filz, ein roher Mensch, der sie als Hungerleider empfing, als sie das erstemal bei ihm vorsprachen. Sie kamen selten in sein Haus. Zu seinem Namensfeste brachte Quenu dem Oheim einen Strauß und erhielt dafür ein Zehnsousstück. Florent, von einem krankhaften Stolze erfüllt, litt sehr, wenn Gradelle seinen abgetragenen Rock musterte mit den argwöhnischen Blicken eines Geizhalses, der die Bitte um ein Mittagessen oder um ein Hundertsousstück wittert. Eines Tages beging er den kindlichen Streich, einen Hundertfrankenschein bei dem Onkel zu wechseln. Er erreichte damit, daß dieser weniger erschrak, wenn »die Kleinen« kamen. Aber weiter ging die Freundschaft nicht.
Diese Jahre waren für Florent ein langer, süßer, trauriger Traum. Alle bitteren Freuden der Selbstaufopferung hatte er durchzukosten. Zu Hause in der gemeinsamen Stube war er nur Liebe. Draußen unter den Demütigungen seines Lehrerberufes, auf den Fußwegen von der Menge gestoßen, fühlte er, wie er schlecht wurde. Sein längst erstorbener Ehrgeiz verbitterte ihn. Es währte Monate, bis er sich ergab und sich in das Leidensgeschick eines häßlichen, mittelmäßigen und armen Menschen fügte. Um den Versuchungen der Schlechtigkeit zu entrinnen, stürzte er sich kopfüber in eine ideale Güte, schuf sich einen Zufluchtsort aus eitel Gerechtigkeit und Wahrheit. Zu jener Zeit wurde er Republikaner; er trat in die Republik ein, wie die verzweifelten Mädchen in das Kloster eintreten. Weil er keine Republik fand, die weich und warm genug gewesen wäre, um seine Leiden einzuschläfern, schuf er sich eine solche. An den Büchern fand er kein Gefallen; alles geschwärzte Papier, unter dem er lebte, erinnerte ihn an die mißduftige Schulklasse, an die von den Schuljungen zerkauten Papierkugeln, an die Marter der langen, unfruchtbaren Stunden. Auch redeten die Bücher nur von Aufruhr, drängten ihn zum Stolze; er aber fühlte ein gebieterisches Bedürfnis nach Frieden und Vergessen. Sich wiegen, einschlummern und träumen, daß er vollkommen glücklich sei, daß auch die Welt es werden sollte, die republikanische Stadt erbauen, wo er hätte leben wollen: dies war seine Erholung, das immer wieder von neuem begonnene Werk seiner freien Stunden. Er las nicht mehr, nur was sein Lehrberuf erforderte; er ging die Jakobstraße hinauf bis zu den äußeren Alleen, machte zuweilen einen weiten Weg und kam durch das italienische Tor zurück; auf dem ganzen Wege hatte er das Mouffetard-Stadtviertel zu seinen Füßen; er ersann sittliche Maßnahmen, menschenfreundliche Gesetzentwürfe, die diese Stadt der Leiden in eine Stadt der Glückseligkeit umwandeln sollten. Als die Tage der Februarrevolution Paris in ein Blutbad tauchten, war er tief bekümmert; er lief in die Klubs und forderte den Loskauf dieses Blutes »durch den Bruderkuß aller Republikaner der Welt«. Er ward einer jener erleuchteten Redner, die die Revolution als eine neue Religion der Milde und Erlösung predigten. Erst die Dezembertage rissen ihn aus dieser Weltallsliebe. Er war entwaffnet. Er ließ sich abfangen wie ein Hammel und wurde behandelt wie ein Wolf. Als er aus seiner Predigt über die Brüderlichkeit erwachte, starb er schier Hungers auf den kalten Fliesen einer Kasematte zu Bicêtre.
Quenu, damals 22 Jahre alt, ward von tödlicher Angst ergriffen, als er seinen Bruder nicht zurückkehren sah. Am anderen Tage ging er nach dem Montmartrefriedhofe, um ihn da unter den Toten der Straße zu suchen, die man reihenweise auf Stroh gebettet hatte. Die unbedeckten Häupter der Leichen waren scheußlich anzusehen. Ihm fehlte der Mut, die Tränen blendeten ihn; zweimal mußte er die Reihen abschreiten. Endlich erfuhr er nach einer Woche auf der Polizeiwache, daß sein Bruder in Haft sei. Er durfte ihn nicht sehen. Als er zudringlich wurde, drohte man, auch ihn zu verhaften. Da lief er zum Onkel Gradelle, der in seinen Augen eine Persönlichkeit war und den er zu bestimmen hoffte, Florent zu retten. Allein, der Onkel Gradelle wurde zornig und sagte, es sei ganz recht so; der lange Tölpel habe nicht nötig gehabt, sich unter die republikanischen Hundsfötter zu mengen; er fügte hinzu, es sei Florent ins Gesicht geschrieben, daß es mit ihm ein böses Ende nehmen werde. Quenu schluchzte bitterlich und war ganz trostlos. Der Onkel schämte sich ein wenig; er fühlte, daß er für den armen Jungen etwas tun müsse, und bot ihm an, ihn zu sich zu nehmen. Er wußte, daß er ein guter Koch sei, und brauchte eben einen Gehilfen. Quenu hatte eine solche Angst davor, allein nach der Stube in der Royer-Collard-Straße zurückzukehren; daß er den Antrag annahm. Er schlief schon am nämlichen Abend bei seinem Oheim in einem finstern Loch unter dem Dache, wo er sich kaum ausstrecken konnte. Er weinte da doch weniger, als er angesichts des leeren Bettes seines Bruders geweint haben würde.
Endlich gelang es ihm, Florent zu sehen. Doch als er von Bicêtre zurückkam, mußte er sich zu Bett legen; das Fieber hielt ihn fast drei Wochen an sein Lager gefesselt, und er verbrachte diese ganze Zeit in einer Art Schlummer und Bewußtlosigkeit. Es war seine erste und einzige Krankheit. Gradelle wünschte seinen republikanisch gesinnten Neffen zu allen Teufeln. Als er eines Morgens erfuhr, daß Florent nach Cayenne abgeführt worden, schlug er Quenu vergnügt in die Hände, weckte ihn, teilte ihm roh diese Nachricht mit und rief damit einen solchen Umschwung in der Krankheit hervor, daß der junge Mann am folgenden Tage auf den Beinen war. Sein Schmerz löste sich; sein schlaffes Fleisch schien seine letzten Tränen aufzusaugen. Einen Monat später lachte er schon, allerdings verdrossen über dieses Lachen; dann behielt aber die Heiterkeit die Oberhand, und er lachte, ohne es zu wissen.
Er erlernte das Wurstmacherhandwerk. Er fand daran noch mehr Gefallen als an der Küche. Allein der Oheim Gradelle sagte ihm, er möge seine Kochtöpfe und Pfannen nicht zu sehr vernachlässigen; ein Wurstmacher, der zugleich ein guter Koch, sei sehr selten zu finden, und es sei für ihn, Quenu, ein Glück, daß er in einer Gastwirtschaft gewesen, ehe er bei ihm eingetreten. Er nützte übrigens die Fähigkeiten des Jungen aus, ließ ihn Mahlzeiten bereiten, die von Kunden bestellt waren, und betraute ihn im besonderen mit der Zubereitung von Rostbraten und Schweinskoteletten mit kleinen Gurken. Da der junge Mann ihm nützliche Dienste leistete, liebte er ihn nach seiner Art, kneipte ihn in die Arme, wenn er gerade gut gelaunt war. Er hatte die ärmliche Einrichtung der Stube in der Royer- Collard-Straße verkauft und behielt den Erlös, vierzig und einige Franken, bei sich, damit der Teufelsjunge Quenu, wie er sagte, das Geld nicht zum Fenster hinauswerfe. Schließlich gab er ihm aber dennoch sechs Franken monatlich zur Bestreitung seiner kleinen Ausgaben.
Obgleich