Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Politische Justiz - Otto Kirchheimer страница 50
Im durchschnittlichen politischen Prozess außerhalb des Raums der Rechtsstaatlichkeit lässt sich der Sinn der Handlungen, die dem Angeklagten vorgeworfen werden, auf mannigfache Weise verzerren. Geständnisse können dem Angeklagten nicht nur mit der Zusicherung von Belohnungen, was schließlich auch unter »zivilisierteren« Bedingungen möglich ist, entlockt werden, sondern auch mit dem Druckmittel der Angst: Dem, der nicht mitspielt, wird auch der geringe letzte Schutz versagt, den ein öffentliches Gerichtsverfahren noch bietet. Die Energie der Staatsorgane richtet sich in jedem Fall darauf, den gewünschten didaktischen Effekt zu erzielen und grell zu beleuchten. Je gründlicher die freie Äußerung des Angeklagten und des Verteidigers eingeengt und kritische Regungen der Öffentlichkeit unterdrückt werden können – auch wieder ein beträchtlicher Unterschied zur rechtsstaatlichen Atmosphäre –, um so wirksamer kann sich dieser Kraftaufwand des Staates geltend machen. Unter solchen Umständen kann ein bestimmter Teilausschnitt der Wirklichkeit in überdimensionaler Vergrößerung gezeigt und der Angeklagte mit den hypothetischen Projektionen des aus seinen Gedanken und Vorstellungen herausdestillierten Handlungsschemas belastet werden.
Indes hängt die Wirkung auch der phantasiereichsten Projektion, und sei es auch nur in geringem Maße, davon ab, ob es der Anklagebehörde gelingt, aus der Projektion doch noch ein Stückchen Wirklichkeit herauszuholen, das als Beweis für die großen dämonischen Anschläge auf das Gemeinwohl zurechtgebogen und öffentlich dargeboten werden kann. Der Horizont der Erziehung durch Prozesse bleibt eng. Im Durchschnittsprozess älteren Stils ist er offenkundig viel enger als dort, wo das Bühnenbild durch die Stalinsche Art von Wissensbereicherung vorgeschrieben ist, wo die Anklagebehörde je nach den wechselnden politischen Bedürfnissen des Augenblicks und unter wenigstens bescheidener Mitwirkung des Angeklagten die Wirklichkeit von Grund auf neu konstruiert. Bis auf die äußere Form bleibt im Schauprozess Stalinscher Prägung nichts mehr übrig, was den politischen Prozess noch als Gerichtsverfahren charakterisiert: Hier wird um die Richtung oder den Sinn wirklicher historischer Geschehnisse nicht mehr gerungen.
6. Verwendbarkeit des Prozesses im politischen Kampf
Im Prozess Stalinscher Prägung war die Gewissheit, dass das im Voraus festgelegte Ergebnis erzielt werden würde, auf die denkbar sicherste Weise verbürgt; damit war auch die Schranke aufgerichtet, die diese Form der reinen Schaustellerkunst nicht durchbrechen konnte. Wenn sich jedoch die Führung des politischen Prozesses mehr dem Normalen nähert, nimmt der Prozess in höherem Maße die Eigentümlichkeiten alles politischen Handelns an: Sowohl in seinen unmittelbaren Wirkungen als auch in seinen Fernstrahlungen haftet ihm das Element des Ungewissen, Lotteriehaften an.
Bei politischen Entscheidungen geht es darum, von den verschiedenen möglichen Richtungen des künftigen politischen Geschehens eine zu wählen. Da die Menschen die schwer dechiffrierbare Schlüsselkombination von Varianten, aus der diese Richtung hervorgeht, nicht überschauen können, denken sie über Ereignisse der Vergangenheit nach, um Anhaltspunkte für ihr Handeln zu finden. An die Stelle des Unbekannten oder Unübersehbaren tritt das Vertraute oder das, was einem vertraut vorkommt. Als eine Methode der Vertretung des Unbekannten durch Bekanntes kann neben den Parlamentsdebatten auch der politische Prozess fungieren. In den Parlamentsdebatten greifen Vergangenheit und Gegenwart ständig in die persönliche Geschichte des Machtbewerbers ein, dessen Leistung von den Wählern danach beurteilt wird, wie gut er es verstanden hat, die Vergangenheit als Leitbild für die Zukunft zurechtzubiegen oder, wenn es sein muss, auszulöschen. Dagegen gibt der Prozess vor, die Beurteilung des Vergangenen von allen Zukunftserwartungen abzuriegeln. Er will ein bestimmtes Element vergangenen Geschehens isolieren, es aus dem, was Chronos, das Fließband der Zeit, laufend und ziellos anliefert, als Rohmaterial herausgreifen. Hat der Prozess die gewünschte Episode aus dem geschichtlichen Geschehen herausgerissen, so kommt es darauf an, sie mit dem grellsten Licht zu bestrahlen, damit auch noch das winzigste Detail bloßgelegt werde.
Was damit bezweckt wird, ist nicht Altertumsforschung und hat nur beiläufig mit Vergeltung zu tun. Rekonstruiert wird die Vergangenheit um der Zukunft willen: Vielleicht wird sie als Waffe im Kampf um politische Herrschaft zu gebrauchen sein. Zwischen dem Geschichtsabschnitt, der seziert werden soll, und dem Gespinst, aus dem er herausgelöst worden ist, liegt nur eine künstliche Isolierschicht. Aber das Gesichtsfeld zu verengen, ist ein anerkanntes Verfahren, wenn man eine Situation der Vergangenheit näher beobachten will. Je kleiner der zu rekonstruierende Abschnitt, je einfacher und klarer seine Umrisse sind, umso weniger komplex wird bei seiner Beurteilung die wertende Entscheidung sein. Aber die Suche nach dem Konkreten ist zugleich auch die Suche nach Wertmaßstäben. Weil jedoch Gegenwart und Zukunft voller komplexer Zusammenhänge sind, gibt es keine Lösungen ohne widerstreitende Gegenlösungen und Gegenansprüche, die Anerkennung verlangen.
Zum Gegenstand hat der Prozess einen Geschichtsabschnitt, zum Wertmaßstab das Gesetz und zum Wegweiser für die Zukunft das Urteil. Um den Gegenstand des Prozesses richtig wahrzunehmen, muss man den gewählten Abschnitt rekonstruieren. Für die gerichtliche Entscheidung ist es unumgänglich, dass einem Einzelnen die Rolle zur Last gelegt wird, die er in einem bestimmten geschichtlichen Zusammenhang gespielt hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Richter zur zuständigen Person für die Beurteilung eines politischen Konflikts werden. Befasste man ihn mit dem Konflikt in einer über die konkrete geschichtliche Konstellation hinausgreifenden Gestalt, etwa als Programm- oder Grundsatzfrage, so stände ihm ein Urteil nicht zu. Ob Demokraten oder ob Republikaner die Macht übernehmen sollen, ob der Krieg bis zum bitteren Ende fortgeführt oder ein Kompromissfrieden geschlossen werden soll: Das zu entscheiden, ist der Richter weder berufen noch qualifiziert. Der Strafrichter kann sich aber im Gegensatz zu Kollegen, die es mit anderen Zweigen des Rechts zu tun haben, auch nicht einfach in Schweigen hüllen. Er kann nicht einfach feststellen, dass eine politische Frage oder ein Staatsakt vorliege; über die besondere Natur solcher Akte lassen sich gewiss abstrakte Theorien entwickeln, aber recht eigentlich entspringen solche Begriffe doch nur empirischen Feststellungen darüber, dass eine öffentliche Erörterung der Tatsachen und dessen, was aus ihnen folgen müsste, den Wünschen der Regierenden nicht entspräche oder dass die Gerichte vor einer unlösbaren Aufgabe ständen, wollten sie Urteile gegen den Willen der Regierung vollstrecken lassen. Zum Glück für den Strafrichter und das Staatsgebilde, dem er dient, werden indes die Konfliktsituationen auf einen bescheidenen Ausschnitt reduziert und als Geschichte behandelt, bevor sie ihm unterbreitet werden. Der Ausschnitt gehört zu früheren Phasen des Konflikts, der noch anhält, so dass der Richter dessen Gegenwartselemente unberücksichtigt lassen und das ihm Vorgelegte als ein Stück Vergangenheit behandeln kann.
Da die Parteien selbstverständlich verschiedene Standpunkte vertreten, müssen für das Gericht die Rollen rekonstruiert werden, die Angeklagte oder Kläger gespielt hatten; den Aussagen von Zeugen kann entscheidende Bedeutung zukommen. Den bekannten Schwierigkeiten der Rekonstruktion im Gerichtssaal