Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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fehlte es auch an der nötigen Anzahl überzeugend klingender und beflissen fügsamer Jasager.

      Auf den ersten Blick scheint es merkwürdig, dass Grünspan nie dazu gebracht worden ist, seine Homosexuellenerzählung zu widerrufen. Aber auch dafür gibt es eine Erklärung. Im Hitlerschen Deutschland nahm die Justizverwaltung, zu deren Bereich die Voruntersuchung und die Gefängnisorganisation gehörten, nicht direkt an der Handhabung der physischen Gewalt teil, die so viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eisern umklammerte. Für direkte Gewaltanwendung war der Sicherheitsapparat da, aber auf eigene Faust hätte er angesichts der heftigen und vielseitigen Ressortauseinandersetzungen über die Organisation des Prozesses schwerlich eingreifen mögen. Damit hängt der allgemeinere Grund zusammen, weswegen das nationalsozialistische Deutschland Schauprozesse der Stalinschen Art nie erlebt hat. Die Gegensätze in den Oberschichten der Gesellschaft waren zumindest seit 1938 so tief und so verbreitet, dass die eigentlichen Machthaber es kaum nötig hatten, eine fiktive Alternativwirklichkeit zu konstruieren, mit der die jeweils zur Vernichtung bestimmten Gegner mit vieler Mühe und großer Sorgfalt hätten identifiziert werden müssen, sofern man aus Prozessen einen wesentlichen Macht- und Prestigegewinn hätte schöpfen wollen.

      Abgesehen von der gefürchteten Gegenwirkung, die durch die Erörterung dunkler Homosexuellenaffären hätte ausgelöst werden können, waren sämtliche Vorbereitungen zum Grünspan-Prozess mit einem grundlegenden Manko behaftet. Was der größte Nutzeffekt des Prozesses hätte sein sollen, war auch seine größte Schwäche: Geplant war ein großes didaktisches Schauspiel, aber die imaginäre Situation, aus der heraus es sich entfalten sollte, existierte nur in den Köpfen von Nationalsozialisten. Grünspan war als Mensch und als Mitwirkender an geschichtlichen Ereignissen eine viel zu nebensächliche, viel zu periphere Figur, als dass man aus ihm ein wirksames Symbol der abgründigen Gefahr hätte machen können, die mit der Enthüllung eines infamen Komplotts des »Weltjudentums« an die Wand gemalt werden sollte. Der Abstand zwischen den Nationalsozialisten und ihrem zufälligen Opfer war so groß, dass seine für sie im Grunde uninteressante Tat auch in ihren Augen nicht die Ausmaße einer schweren Bedrohung der Zukunft Deutschlands annehmen konnte.

      Eigentlich hätten die strategischen Planer der Prozesspropaganda gewarnt sein müssen, denn schon zu Beginn der nationalsozialistischen Ära hatten sie mit der gerichtlichen Ausschlachtung eines wirksamen Propagandacoups ein eklatantes Fiasko erlebt. Ob die Nazis das Reichstagsgebäude selbst angezündet oder – nach einer plausibleren Deutung – lediglich aus der Tat eines isolierten Einzelgängers Kapital geschlagen hatten, war in der Wirkung gleichgültig. Sie hatten aus dem Reichstagsbrand eine kommunistische Verschwörung gemacht und sich damit den bestmöglichen Ausgang der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 gesichert. Damit war ihr Ziel erreicht. Alles andere war nachträgliche Improvisation, ein Bravourstück, ein mangelhaft durchdachter und schlecht ausgeführter Versuch, ein ihnen nicht restlos ergebenes Gericht dazu zu benutzen, der Welt eine erfundene Alternativwirklichkeit mit dem Wahrheitssiegel eines ordnungsgemäßen Rechtsverfahrens vorzuführen. Der Reichstagsbrandprozess fand zu einer Zeit statt, da sich das neuerrichtete totalitäre Regime erst im Konsolidierungsstadium befand. Er wurde einem Gericht anvertraut, das zwar in einer totalitären Atmosphäre amtierte, sich aber dieser Atmosphäre noch nicht richtig angepasst hatte: Die Richter am Reichsgericht waren im Winter 1933/34 in das Hitlersche System noch nicht vorschriftsmäßig eingegliedert. Sie waren zwar bereits hinreichend eingeschüchtert – oder gutgläubig genug, die Geheimnisse der Affäre van der Lubbe, vor allem das Rätsel seines Verhaltens vor Gericht, nicht näher ergründen zu wollen und das unglückselige Opfer ohne großen Aufwand dem Scharfrichter zu überantworten. Aber sie durchkreuzten die Hauptabsicht, die das neue Regime mit dem Prozess verfolgte: Indem sie die mitangeklagten deutschen und bulgarischen Kommunisten freisprachen, verweigerten sie dem Hitlerschen System die nachträgliche Beglaubigung der von ihm konstruierten Alternativwirklichkeit. Zur Strafe wurde dem Reichsgericht mit sofortiger Wirkung die Zuständigkeit für politische Verfahren für alle Zukunft abgesprochen. Das Scheitern des Grünspan-Projekts sollte jedoch noch viele Jahre später dartun, dass die Möglichkeit, die Gerichte jederzeit in den Dienst der politischen Symbolbildung zu stellen, mit der bloßen Verlagerung der Zuständigkeit, ja sogar mit der Auswechslung des richterlichen Personals noch nicht gewährleistet ist.

      c) Prozess im Dienste didaktischer Fiktionen

      Dem Nationalsozialismus ist nie geglückt, was in der mittleren und in der späten Phase der Stalin-Herrschaft dem politischen Prozess seine eigentliche Würze gab: Die Verbindung der äußeren Mechanismen eines ohne rechtsstaatliche Voraussetzungen gehandhabten Verfahrens, der bequemen, aber noch sterilen Vorausbestimmung des Prozessausgangs, mit der Hervorbringung bleibender politischer Symbolbilder für die Zwecke der Massenbeeinflussung und Massenbeherrschung. Der politische Prozess Stalinscher Prägung hatte die Hauptschwäche des rein didaktischen Schauspiels, seine mangelnde Ausrichtung auf ein einmaliges historisches Ereignis, zu überwinden gesucht. Indem er den Angeklagten als Darsteller seiner eigenen besonderen geschichtlichen Rolle zugleich zum Kronzeugen für das von den Prozessinitiatoren fabrizierte Zerrbild der Wirklichkeit machte, schaltete er auch die Konfrontierung, das Aufeinanderprallen der verschiedenen Deutungen der Wirklichkeit aus, beseitigte also das charakteristische Wesensmerkmal und den wichtigsten Störungsfaktor des politischen Prozesses traditioneller Prägung.

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