Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Der Fall John zeigt einige der Schwierigkeiten, die sich bei der Anwendung der neuen Strafbestimmungen dort einstellen, wo ernste Gewissenskonflikte um politische Treueverpflichtungen zu den Handlungen geführt haben, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Der neue § 100d des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik bestraft landesverräterische Beziehungen »zu einer Regierung, einer Partei, einer anderen Vereinigung oder einer Einrichtung außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs« des Gesetzes. (Mit der umständlichen Formulierung sollten vor allem Beziehungen zu Institutionen der DDR getroffen werden, die vom Standpunkt der Bundesrepublik weder ein anerkannter Staat noch eine Auslandsmacht ist.) Bestrafung kann jedoch, wie der Berichterstatter des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht bei der Bundestagsberatung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1951 klarstellte, nur erfolgen, wenn der Nachweis erbracht ist, dass die fraglichen Beziehungen in der Absicht unterhalten wurden, »gegen die Sicherheit der Bundesrepublik gerichtete Unternehmungen oder Bestrebungen zu unterstützen«. Ausdrücklich fügte der Berichterstatter hinzu: »Dabei genügt es nicht, dass diese Unternehmungen oder Bestrebungen den politischen Interessen der Bundesrepublik zuwiderlaufen.«82
Wollte aber John, als er Beziehungen zur ostdeutschen Regierung aufnahm, wirklich, wie das Strafgesetzbuch sagt, »Maßnahmen oder Bestrebungen fördern«, die darauf gerichtet waren, »den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen«? Entsprach seine in Ost-Berlin ausgesprochene Verurteilung der Aufrüstungspolitik der Bundesregierung mit all ihren innenpolitischen Auswirkungen nicht vielmehr haargenau den Auffassungen, an die er auch schon in der Bundesrepublik geglaubt hatte? Genügt der Hinweis der Urteilsbegründung83 auf die besonderen »Anforderungen«, die im Hinblick auf seine amtliche Stellung »an ihn zu stellen waren«, zur Widerlegung des Arguments, dass eine landesverräterische Absicht nicht notwendigerweise vorliege, wenn sich Auffassungen des Angeklagten mit bestimmten Interessen einer fremden oder sogar feindlichen Macht deckten? Solche Zweifel an Johns Absicht, dem westdeutschen Staatsgebilde Schaden zuzufügen, fielen allerdings nicht entscheidend ins Gewicht, da er zweifelsohne schuldig war, im Osten falsche Tatsachenangaben gemacht zu haben, mit denen »erfundene Staatsgeheimnisse« bekanntgemacht wurden. Damit war der Tatbestand der landesverräterischen Fälschung (§ 100a Absatz 2) erfüllt, auf den ohnehin Zuchthaus steht, und die gleichzeitige Verurteilung nach § 100d leichter zu bewerkstelligen.
Ebenfalls wegen Vergehens gegen § 100d stand vor demselben Bundesgerichtshof ein Jahr später, im November und Dezember 1957, ein anderer Angeklagter, Viktor Agartz, dessen Fall erst recht davon abhängen musste, wie die Richter den Unterschied zwischen einem Agenten und einem unabhängigen, auf eigene Faust operierenden Politiker und Publizisten beurteilten. Agartz hatte längere Zeit als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WWI) gewirkt und um 1954 als der theoretische und programmatische Hauptberater des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegolten. Seine Tendenz, die deutsche gesellschaftliche Entwicklung in Klassenkategorien zu beurteilen und die Gewerkschaften ausdrücklich auf eine Klassenkampfposition festzulegen, hatte sich indes, auch wenn die DGB-Leitung ihn nicht offiziell desavouierte, insofern als störend erwiesen, als sie Kompromisse und Ausgleich innerhalb der weitverzweigten und weltanschaulich keineswegs homogenen Organisation erschwerte. Außerdem hatten politische Gegner dafür gesorgt, dass der Name Agartz in manchen Kreisen zum Kinderschreck geworden war. Innerorganisatorische Zwistigkeiten und persönliche Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich Agartz weder besonders geschickt noch besonders loyal zeigte, endeten damit, dass er im Dezember 1955 aus dem Dienst der Gewerkschaften entlassen wurde. Darauf versuchte er, unter dem Namen WISO, Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, eine eigene Publikation herauszugeben. Unter Mitwirkung verschiedener Freunde und Gesinnungsgenossen, zu denen einige ebenfalls entlassene WWI-Mitarbeiter gehörten, übte er scharfe Kritik sowohl an der Politik der Gewerkschaften als auch überhaupt an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik; Sprache und Argumentation hörten sich marxistisch an und mochten manche Leser an Sprache und Argumentation östlicher Publikationen erinnern.
An Leser in der Bundesrepublik gingen etwa 400 Exemplare der Zeitschrift; das reichte nicht zur Finanzierung der Publikation. Als ostdeutsche Stellen Agartz Hilfe in Gestalt von 2.000 festen Abonnements anboten, nahm er sie an. Ein unterer Funktionär aus der DDR, der als Fahrer und Kurier fungierte, brachte die »Bezugsgelder« in größeren Beträgen nach Westdeutschland. Diese Geldmittel wurden dann in kleineren Summen, von verschiedenen Orten aus und mit fingierten Absendernamen auf Agartz’ Konto überwiesen. Nach außen hin und vor allem auch bei Agartz’ nichtsahnenden Mitarbeitern konnte somit der Eindruck erweckt werden, als ob die Gelder von einwandfreien echten Beziehern in Westdeutschland stammten. Das sorgfältig getarnte Finanzierungssystem ging in die Brüche, als ein anonymer Anrufer, der sehr wohl im Auftrag der DDR-Staatsorgane gehandelt haben mag, die West-Berliner Kriminalpolizei auf die Spur des Kraftwagens mit dem Fahrer und einem Geldtransport von 21.000 DM lenkte.
Anders als John, der vor Gericht seinen Antikommunismus betonte und sich auf Zwang und Notstand berief, bekannte sich Agartz ohne Umschweife zu seinem politischen Standpunkt und nahm für sich nachdrücklich die Rolle eines revolutionär-klassenkämpferischen Gesellschaftskritikers in Anspruch. Im Mittelpunkt der Vernehmung des Angeklagten standen Schwarzweißkontraste von Freiheit und Unterdrückung; was Agartz dazu zu sagen hatte, war für die Richter wenig befriedigend, denn er bediente sich in der Beurteilung des gesellschaftlichen Fazits in Ost und West anderer Maßstäbe, als auf die er festgenagelt werden sollte. Seine grundsätzliche Erklärung, dass weder finanzielle Zuwendungen noch persönliche Kontakte mit östlichen Stellen seine politische Unabhängigkeit auch nur im Geringsten beeinträchtigt hätten, fand ihre Bestätigung in einigen Zeugenaussagen und in manchen Schriftstücken, die seinen Akten entnommen worden waren. Dagegen zeichnete die Anklagebehörde unter Berufung auf die östliche Subvention und auf kritische Äußerungen aus Agartz’ Briefwechsel das düstere Bild eines westlichen Stützpunkts für die kommunistische Politik, der mit Agartz’ Hilfe aufgebaut worden sei. Damit sollte der Fall Agartz dem Fall John angeglichen werden: Nicht Johns politische Einstellung, sondern seine Einsicht in die möglichen politischen Folgen seines Tuns war im John-Urteil als das ausschlaggebende Moment gewertet worden.
Von der Bundesanwaltschaft wurde eine einjährige Gefängnisstrafe beantragt und zur Begründung einiges aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Verbot84 herangezogen: Zum mindesten sollten bei den Richtern Zweifel an der verfassungsmäßigen Zulässigkeit einer im Agartzschen Sinne geübten Kritik an der Klassenstruktur der heutigen westlichen Gesellschaft geweckt werden. Die Kernfrage, die das Gericht zu beantworten hatte, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Stellen Kontakte mit DDR-Behörden und die Annahme von DDR-Subventionen für die Veröffentlichung einer marxistisch aufgemachten Zeitschrift auch dann landesverräterische Handlungen dar, wenn sich die Ausrichtung des Angeklagten auf östliche Haltungen nur daraus erweisen lässt, dass zwischen seiner Politik und der Politik des Ostens gelegentlich – und auch dann nicht in vollem Umfang – eine Parallelität besteht, die sich eher aus der Gemeinsamkeit bestimmter theoretischer Ausgangspunkte als aus übereinstimmender Beurteilung konkreter politischer Entscheidungen und Handlungen ergibt?
Das Urteil fiel gnädig aus. Agartz wurde mangels Beweises und seine wenig informierte Sekretärin »mangels Tatverdachts« freigesprochen. Der Kraftwagenfahrer, der die Geschäftsverbindung zwischen Agartz und den Ost-Berliner Gewerkschaftsinstanzen aufrechterhalten und das Geld herübergeschmuggelt hatte, erhielt als »konspirativer Helfer verfassungsfeindlicher Kräfte« acht Monate Gefängnis. Die Geringfügigkeit der Strafe, die auch noch voll auf die verbüßte Untersuchungshaft angerechnet wurde, erklärte das Gericht damit, dass der konspirative Fahrer »nicht den Eindruck eines Fanatikers, sondern den eines Geschäftsreisenden« gemacht habe.85
Es ist möglich, dass sich