Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Für die sozialdemokratische Gefolgschaft von 1924 und sogar für die möglichen künftigen Anhänger, die die Sozialdemokratie nun, nach der Verschmelzung der Mehrheitspartei mit den Unabhängigen, dem Wirkungsbereich der Kommunisten hätte entziehen müssen, war das, was die sozialdemokratische Führung im Januar 1918 getan hatte, entweder von minimalem Interesse oder geradezu ein Ehrentitel. In den Augen ihrer Gegner aber war Ebert im Voraus verurteilt als Repräsentant der zwiespältigen sozialdemokratischen Haltung vom Januar 1918, die sich eben daraus ergeben hatte, dass zwischen der Politik des offiziellen Deutschlands, des Deutschlands Ludendorffs, und den Gefühlen und Erwartungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung und der sie schlecht oder recht vertretenden Sozialdemokraten ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte. Möglich ist freilich, dass sich Ebert und seine Anwälte in Magdeburg nicht nur von Gesinnungszwang, sondern auch von taktischen Überlegungen leiten ließen. Möglich ist, dass Ebert der Meinung war, er müsse als Reichspräsident und eventueller Präsidentschaftskandidat gerade die unentschlossenen und unentschiedenen Teile der Wählerschaft hofieren, die sich an die Vorstellung des kontinuierlichen organischen Zusammenhangs zwischen kaiserlichem und republikanischem Deutschland klammerten und denen es ein inneres Bedürfnis war, alles aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was zum Zusammenbruch der alten Ordnung geführt hatte.
Der die Magdeburger Verhandlung leitende Landgerichtsdirektor und der Landgerichtsrat, der ihm zur Seite stand, waren indes nicht von dieser Sorte: Sie waren fanatische Gegner des republikanischen Staatsgebildes. In seiner sorgfältig ausgearbeiteten Urteilsbegründung umging der Vorsitz führende Richter das historische und moralische Problem, das nach dem Urteil eines der Kritiker64 das eigentliche Problem des Prozesses war; das Urteil, führte er aus, könne nur nach rein rechtlichen Gesichtspunkten gefällt werden. Eberts Beweggründe, so patriotisch sie auch gewesen sein mochten, seien, meinte er, für die Urteilsfindung nicht von Belang: »… es kann eine Handlung, die politisch und historisch als zweckmäßig, ja heilsam erkannt wird, gleichwohl gegen das Strafgesetz verstoßen.«65 Ebert habe durch seine Teilnahme an der Streikleitung und durch seine Versammlungsrede der Landesverteidigung Schaden zugefügt und damit Landesverrat begangen; seine Absicht, den Streik zu beenden und eine weitere Schädigung des Landes zu verhüten, schließe den Vorsatz des Landesverrats nicht aus. Nachdem das Gericht somit gefunden hatte, dass der Beklagte für seine wichtigsten Behauptungen den Wahrheitsbeweis erbracht habe, denn Ebert habe sich im juristischen Sinne in der Tat des Landesverrats schuldig gemacht, verurteilte es den Beleidiger wegen der Form seiner Äußerungen über das Staatsoberhaupt zu drei Monaten Gefängnis.
Als die Reichsregierung, der ein Deutschnationaler und drei Mitglieder der Deutschen Volkspartei angehörten, vom Urteil erfuhr, beschloss sie einstimmig eine Kundgebung an den Reichspräsidenten, in der sie ihre Überzeugung aussprach, seine Tätigkeit habe »stets dem Wohl des deutschen Vaterlands gedient.« Für die Presse der Rechten und für viele Politiker der Rechtsparteien war das wieder ein Anlass, sich zu entrüsten und Ebert zu beschimpfen.
Ebert starb kurz darauf, im Februar 1925. Kein Historiker kann sagen, ob ihm der Ausgang des Prozesses die Möglichkeit genommen hätte, sich zur Wiederwahl zu stellen. Zu einer Überprüfung des Magdeburger Urteils im normalen Instanzenzug ist es nicht mehr gekommen, da eine Amnestie dem Verfahren ein Ende bereitete. Rechtskräftig ist das Urteil nicht geworden. Mehrere Rechtslehrer kritisierten das Verfahren und den Urteilsspruch: sie verneinten den Vorsatz der Schädigung des Staatsinteresses oder waren der Meinung, dass der alte Grundsatz des Nachteilsausgleichs (compensatio lucri cum damno) hätte angewandt werden müssen.66 Akzeptierte man das Prinzip des Nachteilsausgleichs, so fiel nicht nur das subjektive Element der Schuld fort, sondern auch jedes objektive Tatbestandsmoment eines landesverräterischen Unternehmens.
Indes fand auch die gegenteilige Ansicht beredte Wortführer. Wer der Kriegsmacht, hieß es da, durch sein Handeln einen Schaden zufüge, könne sich nicht zum Beweis des fehlenden staatsschädigenden Vorsatzes darauf berufen, dass er beabsichtigt habe, mit derselben Handlung einen größeren Vorteil für die Kriegsmacht zu erzielen, »selbst dann nicht, wenn der Vorteil in der Folge wirklich eintritt.« Auch »die uneigennützige Absicht, dem Vaterland zu helfen«, schütze nicht vor Strafe, »wenn die Verwirklichung der Absicht mit unerlaubten Mitteln angestrebt wird«, schon gar nicht in Kriegszeiten: »Im Krieg vornehmlich kann nur ein Wille herrschen, der Wille des Staates, der durch seine berufenen Organe handelt.«67
Ebert war schon seit über sechs Jahren tot, als das Reichsgericht mit einer entschiedenen Zurückweisung der Magdeburger Landesverratstheorie seine Ehrenrettung unternahm. In einem neuen Verfahren wegen Beleidigung des toten Reichspräsidenten, in dem sich der Angeklagte zu seiner Entlastung auf das Urteil des Magdeburger Schöffengerichts berief, wurde den Magdeburger Kollegen die Belehrung zuteil, dass ihrer Rechtsinterpretation durch eine ältere höchstgerichtliche Entscheidung die Basis entzogen worden sei. Ein Urteil des vereinigten II. und III. Strafsenats des Reichsgerichts vom 5. April 1916 wurde ausgegraben, in dem das Vorliegen eines Landesverrats verneint worden war, obgleich der Angeklagte, ein deutscher Großkaufmann, mitten im Krieg die Belieferung seiner russischen Fabriken mit schwedischem Stahl vermittelt hatte. Hätte der Angeklagte, so wurde argumentiert, keine Stahllieferungen mehr ins Feindesland gehen lassen, so wären die Werke, in denen landwirtschaftliche Geräte hergestellt wurden, von der russischen Regierung beschlagnahmt und in den Dienst der Kriegsproduktion gestellt worden; dem Angeklagten sei also zugute zu halten, dass der größere Schaden mit seiner Hilfe verhütet worden sei. (Vom »totalen Krieg« und davon, dass auch landwirtschaftliche Geräte die Wehrkraft eines kriegführenden Landes erhöhen, war noch nicht viel bekannt.)
Diese Argumentation wurde nun von den Reichsgerichtsräten von 1931 auf den Fall Ebert angewandt. »In ähnlicher Weise«, sagten sie, »ist auch das Verhalten eines Arbeiterführers zu beurteilen, der während eines Kriegs in die Leitung eines von radikalen Elementen angezettelten, für die deutsche Kriegsmacht nachteiligen Streiks eintritt mit der Willensrichtung, wieder Einfluß auf die von den radikalen Elementen aufgehetzten Arbeiter zu gewinnen, sie zur Besonnenheit zu ermahnen und ein möglichst baldiges Ende des Streiks herbeizuführen.«
Dieser Arbeiterführer dürfe sogar Konzessionen an den Radikalismus machen, den Streikenden versprechen, dass er für ihre Forderungen eintreten werde, und diese Forderungen auch wirklich vertreten, »sofern er nur bei allen seinen Maßnahmen das Endziel im Auge behält, von der deutschen Kriegsmacht größeren Nachteil, insbesondere auch eine Ausartung der Streikbewegung in eine revolutionäre Bewegung, abzuwenden.«68 Unter Berufung auf compensatio lucri cum damno wurde der Makel des Landesverrats von Ebert genommen und sein Andenken in Ehren wiederhergestellt.
Das Urteil von 1931 erfreute gewiss die politischen Freunde Eberts. Es war aber kein Damm, mit dem die Sturmflut der nationalistischen und nationalsozialistischen Propaganda hätte aufgefangen werden können. Diese Propaganda hatte sich seit langem der Gerichtsvorgänge und des Urteils von Magdeburg bemächtigt und daraus tödliche Waffen gegen die Weimarer Republik geschmiedet. Unermüdlich und unablässig wurde dem Staat, der nicht aus einer »revolutionären Bewegung« hervorgegangen sein wollte, die Schmach des Vaterlandsverrats vorgehalten.
Man kann dem Ebert-Prozess aber auch noch ein anderes entnehmen: Offenbar charakterisiert die Vergrößerung und Ausweitung der Wirkungen politischer Propaganda mit Hilfe öffentlicher Gerichtsverfahren ganz allgemein das Stadium der Politisierung gesellschaftlicher Konflikte und der Verschärfung politischer Kämpfe in einer Gesellschaft,