Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Wem aber war die richterliche Entscheidung anzuvertrauen? Von Anfang an scheint sich Clemenceau der Idee eines Kriegsgerichts widersetzt zu haben: »Ich bin ein Politiker, der gegen einen anderen Politiker vorgeht«, soll er Poincaré entgegengehalten haben.44 War er von Caillaux’ Anspielung auf seine Dreyfus-Vergangenheit beeindruckt? Oder erwartete er, dem es doch bei der ganzen Affäre nur um Mehrung seines Ansehens ging, bei Militärrichtern ein Todesurteil,45 das seinem Prestige nur hätte schaden können? Ob so oder so: Am 13. Oktober 1918 erließ die Regierung ein Dekret, das den Fall der ordentlichen politischen Gerichtsbarkeit, das heißt dem Senat als Haute Cour, zuwies. Die von den Untersuchungsrichtern im Waffenrock begonnene Voruntersuchung wurde von einem Untersuchungsausschuss des Senats weitergeführt.
Der Senatsausschuss verbrachte mit der Vorbereitung des Prozesses weitere sechzehn Monate. Im Februar 1920 trat endlich der Senat als Haute Cour zusammen. Der Krieg war längst vorbei, und die Initiatoren des Verfahrens waren aus der aktiven Politik ausgeschieden: Poincaré vorübergehend, Clemenceau für immer. Aber ihre Jünger hatten am 11. November 1919 die ersten Nachkriegswahlen gewonnen, und ihrer überwältigenden Mehrheit in der »horizontblauen« Kammer46 entsprach ein solider Mehrheitsblock im Senat.
Der Mann Caillaux, wie ihn das dem Senat unterbreitete Belastungsmaterial schilderte, war ein Ausbund der Untugend: in persönlichen Beziehungen mehr als unvorsichtig, in politischen Bindungen von Hass und Ressentiment aus der bösen Zeit des Calmette-Dramas vom Sommer 1914 getrieben, in der Kritik an der Regierungspolitik von Arroganz und Hochmut erfüllt, ein Mensch ohne Wärme, dem kein Mitgefühl zukommt.
Entlastende Aussagen kamen weder von Malvy, dem Freund und Schützling, der von der Landesverratsanklage freigesprochen, aber wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden war, noch von Briand, dem alten Rivalen, der nicht zum horizontblauen Lager gehörte, aber immer noch über großen Einfluss verfügte. Weder der eine noch der andere konnte sich daran erinnern, von Caillaux halbamtlich, wie er behauptete, aber zur richtigen Zeit mitgeteilt bekommen zu haben, dass er die Annäherungsversuche des nämlichen deutschen Agenten zurückgewiesen habe, von dem die Anklageschrift sagte, Caillaux habe mit ihm »in Verbindung« gestanden. Briand, der selbst seit drei Jahren nicht mehr im Amt war, tadelte Caillaux wegen Unklugheit und Unaufrichtigkeit und wollte ihm nicht mehr zugutehalten als die Atmosphäre allseitiger Feindseligkeit und gegenseitigem Misstrauen, die Politiker dazu treibe, tadelnswerte Dinge zu tun; wenn Politiker nicht mehr in der Regierung seien, meinte Briand, werde angenommen, dass sie bis zum äußersten gingen, um wieder hineinzukommen: »Das Unglück ist, dass die Politiker nicht genug Verbindung miteinander haben; wenn sie einander in der Regierung ablösen, könnte man meinen, sie täten es nur, um einander in Stücke zu reißen, während doch zwischen ihnen, was immer ihre politischen Differenzen sein mögen, starke Bande der Solidarität bestehen sollten.«47
Der Anklage stellte sich Caillaux’ Denken und Handeln als Landesverrat dar, der konkret in der Aufnahme von Verbindungen zum Feind zum Ausdruck gekommen sei. Dieser Beschuldigung, in der juristische Gesichtspunkte hinter politischen Überlegungen zurücktraten, lag folgende Argumentation zugrunde: 1. Damit man im Krieg den Sieg erringe, sei es unerlässlich, dass man an ihn glaube und das Vertrauen zur Armee stärke; 2. außer der verantwortlichen Regierung, die allein ausreichend unterrichtet sei, stehe es niemandem, weder einer Person noch einer Institution, zu, darüber zu befinden, wie der Krieg geführt werden solle; 3. wer dem Feind in irgendeiner Form, unmittelbar oder mittelbar, Beistand leiste, begehe ein Verbrechen.48
Unzweifelhaft gab es genug Beweise dafür, dass Caillaux weder an den Sieg geglaubt noch je die Absicht gehabt hatte, der Armee dazu zu verhelfen, das Vertrauen des Volkes zu behalten. Dafür, dass er sich das der Regierung vorbehaltene Recht, die Kriegspolitik zu bestimmen, angemaßt habe, gab es wenig Anhaltspunkte. Gewiss hatte ihn die deutsche Propaganda unentwegt als den wahren Staatsmann und den einzigen Franzosen mit politischem Verständnis hingestellt; aber das war psychologische Kriegführung und konnte dem ohne sein Zutun auserkorenen Objekt, dem Opfer, schwerlich zur Last gelegt werden. Und Beistand für den Feind? Das war eine komplizierte, problemreiche und problematische Konstruktion.
Man unterstelle, die Regierung und die Anklagebehörde hätten mit der Behauptung recht gehabt, dass ein Kompromissfrieden notwendigerweise zur Vorherrschaft Deutschlands hätte führen müssen. Hätte das geheißen, dass die Befürwortung eines solchen Friedens mit Hilfe, Unterstützung und Zuspruch für den Feind gleichbedeutend gewesen sei? Kam es nicht im Gegensatz zur Meinung des Anklägers entscheidend auf den Nachweis eines schuldhaften Vorsatzes an, auf den Nachweis, dass der Angeklagte, und sei es auch nur zögernd, zum willentlichen Entschluss gekommen sei, die deutsche Sache zu fördern, und dass er darüber im klaren gewesen sei, dass er sie förderte? Wurde da nicht etwas erschlichen? Lag der Anklage nicht lediglich der Umstand zugrunde, dass das, was den Deutschen hätte zuträglich sein können, zufällig mit dem zusammenfiel, was der Angeklagte im Interesse eines dauerhaften Friedens für zweckdienlich gehalten hatte?
Die Argumentation der Anklage vernachlässigte eine elementare Tatsache: Die Bemühungen und Anstrengungen entgegengesetzter Kräfte können mitunter parallel verlaufen, ohne dass diese Kräfte von denselben Beweggründen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Von der Verteidigung wurde diese Schwäche der Anklage energisch ausgeschlachtet. Marius Moutet, bewährter Kenner des parlamentarischen Getriebes, und Vincent de Moro-Giafferri, der verdiente Künstler des forensischen Gefechts, nahmen Stück für Stück das Beweismaterial auseinander. Und das Gedankengeflecht der Anklage sezierte der Veteran der Advokateur Charles-Gabriel-Edgar Demange (1841 - 1925), ein hochqualifizierter, wenn auch etwas altmodischer Spezialist der juristischen Analyse. Er hatte durchaus das Ohr der ältlichen Herren im Senat, als er den Anklägern nachwies, dass sie über das subjektive Element der Straftat achtlos hinweggegangen waren. Das Auditorium war beeindruckt.
Das letzte Wort des Angeklagten zeugte eher von politischer Konsequenz und Redlichkeit als von juristischer Logik. Allzu geschickt war die Art nicht, wie Caillaux darzulegen versuchte, dass er sich gegen das Gesetz nicht vergangen habe; unbestreitbar dagegen war die Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit seiner politischen Argumentation. »Stahl und Eisen sind die direkten und indirekten Urheber des Krieges«, hatte er in der Anfangsphase der Verhandlungen49 verkündet, und darauf kam er immer wieder zurück. Dem Vorwurf, dass er sich 1916/17 ohne Rücksicht auf interalliierte Verpflichtungen um einen deutsch-französischen Frieden bemüht habe, begegnete er stolz mit der Erklärung, mit diesen Bemühungen habe er sich ein großes Verdienst erworben; was er 1911 zur Erhaltung des Friedens getan habe, habe den Ausbruch des Krieges um drei Jahre hinausgeschoben und Frankreich ganz anders als bei der Überraschungskatastrophe von 1870 genug Zeit gelassen, seine Verteidigungsmittel auszubauen. Die unausweichliche Doppeldeutigkeit der Geschichte war ein schwer widerlegbares Entlastungsargument: Wer einen Krieg vermieden hat, kann sich darauf berufen, dass er seinem Land die Chance gesichert habe, künftigen Gefahren besser vorzubeugen. Unwiderleglich war auch Caillaux’ Zukunftsperspektive: Sein zentrales Ziel, die Schaffung eines vereinten Europas, hatte seit der Vorkriegszeit weder an Überzeugungskraft noch an Dringlichkeit verloren.
Das Urteil der