Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Die kautschukartige Natur der Strafrechtsklausel über den Verkehr mit dem Feinde war schon früher von Rechtslehrern angefochten worden; Unvorsichtigkeit in Beziehungen solcher Art, meinte ein führender Kommentator, sei eher ein Fehler als ein Verbrechen.53 Im Gegensatz zum Artikel 78 des französischen Strafgesetzbuches, wie er 1920 in Kraft war, bestraft der jetzt geltende Text (seit Juli 1939 Artikel 79 Absatz 4, neuerdings, seit Juni 1960, Artikel 81) jeden, der in Kriegszeiten ohne Genehmigung der Regierung Beziehungen mit Staatsangehörigen oder Agenten des Feindes unterhält. Jetzt bedarf es nicht mehr des Beweises, dass dem Staat durch die dem Feind zugetragene Information Schaden zugefügt worden sei; die Beweislast liegt auch nicht mehr bei der Anklagebehörde: Der Angeklagte muss nachweisen, dass er im Einvernehmen mit der Regierung gehandelt habe.54
Zur Zeit des Caillaux-Prozesses waren diese verschärften Bestimmungen noch nicht in Kraft, und das Urteil der Haute Cour rief allenthalben scharfe Kritik hervor. Weder der Caillaux vorgeworfene Umgang mit Feindesagenten noch die Beschuldigungen nach Art. 77 und Art. 79, die der Senat fallen ließ, hatten sich mit schuldhaftem Vorsatz in Beziehung setzen lassen. Der einzige Brief, den Caillaux je an einen deutschen Agenten geschrieben hatte, sagte, dass der Schreiber mit dem Adressaten nichts zu tun haben wolle. Als Zeuge vor dem Senat hatte Henry de Jouvenel treffend erklärt, Caillaux habe sich nicht des Einvernehmens mit dem Feinde, sondern des fehlenden Einvernehmens mit den Alliierten schuldig gemacht.55 Der vage Inhalt der Anklage war damit vielleicht noch am besten gekennzeichnet.
Was bewirkte nun eigentlich der so lange hinausgezögerte Prozess? Zweifellos lag seine Bedeutung nicht im Urteilsspruch. Sobald das neue Linkskartell bei den Wahlen vom 11. Mai 1924 die konservative Koalition geschlagen hatte, löschte eine Amnestie das Urteil mit all seinen Folgewirkungen aus; Caillaux wurde zum Senator gewählt, und im April 1925 war er von neuem Finanzminister.56 Das Entscheidende war, dass ein Zusammentreffen verschiedener Umstände Poincaré und Clemenceau Ende 1917 die Chance in die Hand gespielt hatte, einen Strafrechtsfall Caillaux zu inszenieren. So konnte Caillaux in den letzten Stadien des Krieges vom politischen Schlachtfeld entfernt und nicht nur als schlechter Patriot und Gegner der nationalen Sammlung der öffentlichen Missbilligung preisgegeben, sondern auch als Verräter und feindlicher Agent durch den Schmutz gezogen werden.
Als das Urteil 1920 schließlich gefällt wurde, kam es auf die Verurteilung des Verleumdeten kaum noch an. Aber in den trüben Wintertagen von 1917/18 war die Ausschaltung Caillaux’ von überragender Bedeutung gewesen. Und die Möglichkeit, Symbolbilder von anhaltender Wirkung zu prägen, auf die die Regierung in dieser kritischen Zeit besonders angewiesen war, hatte mit dem Klischee »Caillaux unter Beschuldigung des Landesverrats verhaftet« einen gewaltigen Auftrieb bekommen.
Die Symbolik der Kriegszeit verblasste sehr schnell. Von ihr war nichts mehr übrig, als nach zehnjähriger Pause eine neue Linkskoalition unter Herriot zur Macht kam und sich mit der entzauberten und ernüchternden politischen Wirklichkeit der zwanziger Jahre auseinandersetzen musste.
b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert
Ist die Landesverratsanklage die schwerste und ungeschlachteste Waffe im Kampf um die politische Macht, so sind die Mittel, mit denen man einen politischen Gegner zu Beleidigungs- oder Verleumdungsklagen zwingen kann, fast wie ein Florett: handlicher, beweglicher, zweideutiger. Und da diese Mittel auch denen zugänglich sind, die am Genuss der Macht nicht teilhaben, wird von ihnen auch sehr viel häufiger Gebrauch gemacht. Ihre Wirksamkeit ist von Land zu Land verschieden. Sie hängt einerseits mit nationalen Unterschieden in den gesetzlichen Vorschriften, anderseits damit zusammen, wie sich die Allgemeinheit und die Richter zu Verunglimpfungen im politischen Bereich stellen.57
Diffamierung in der politischen Sphäre mit anschließenden Beleidigungs- und Verleumdungsklagen war in der Weimarer Republik sehr früh zur Alltagserscheinung geworden. Diese Waffe konnten die Deutschnationalen schon 1920 gegen den vielseitigsten und einfallsreichsten, wenn auch vielleicht nicht allerskrupelhaftesten Politiker der Periode, den Zentrumsmann Matthias Erzberger (1875 - 1921), damals Reichsfinanzminister, nicht ohne Erfolg in Anschlag bringen. Von den vielen Fällen, die Erzbergers Vorgänger aus des Kaisers Tagen, sein ärgster Feind Karl Helfferich, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, gegen ihn zusammengetragen hatte, um zu beweisen, dass der republikanische Verwalter der Staatsfinanzen Politik und Geschäft auf unzulässige Weise vermenge, erwiesen sich die meisten als gegenstandslos. Doch auch die wenigen Fälle, in denen Helfferichs Anschuldigungen unwiderlegt blieben, reichten dazu aus, dem verklagten Beleidiger zu einem gewissen moralischen Sieg zu verhelfen und den Kläger Erzberger zum Rücktritt zu zwingen.58
Ungleich höher war der Einsatz im Beleidigungsprozess, den Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 - 1925) Ende 1924 zu führen genötigt war. Hier ging es nicht mehr um Probleme privater oder öffentlicher Moral. Auf dem Spiel stand hier die Legitimität des neuen republikanischen Staatswesens schlechthin; sie hing wesentlich mit der Beurteilung der historischen Rolle zusammen, die der erste Präsident des jungen Staates in den Januartagen 1918 gespielt hatte, sozusagen in der Inkubationszeit der Republik. Der gerichtlichen Austragung des Konflikts kam umso größere Bedeutung zu, als Eberts Amtszeit ihrem Ende entgegenging. Die Behandlung der Beleidigungsklage und ihr Ausgang mussten sowohl seine Bereitschaft, sich zur Wiederwahl zu stellen, als auch die Möglichkeit beeinflussen, ihn zum Bannerträger einer republikanischen Koalition bei der ersten Volkswahl des Präsidenten im Juli 1925 zu machen.
Es ist mit Ebert nicht viel anders als mit dem anderen führenden europäischen Staatsmann der zwanziger Jahre, der gleich ihm aus den Reihen der Arbeiterbewegung gekommen war: J. Ramsay MacDonald (1866 - 1937). Auf der historischen Leistung beider Männer, die das Heranrücken der organisierten Arbeiterschaft an den Staat symbolisieren, liegen dunkle Schatten. In der Perspektive ist gerade Eberts Lebenswerk verzerrt, weil die großen geschichtlichen Gebilde, mit denen es aufs engste verbunden war, die Sozialdemokratische Partei der vorhitlerschen Zeit und die Weimarer Republik, gescheitert sind. Nachdem das Verhängnis seinen Lauf genommen hat, lassen sich jedoch zwei historische Momente