Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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Wort nannte es Caillaux »eine Maßnahme«, eine politische Entscheidung, nicht einen Akt der Gerechtigkeit.50 Das Gericht erklärte, dass eine schuldhafte Absicht des Angeklagten, die Sache des Feindes zu unterstützen, nicht festgestellt worden sei; infolge des »Verkehrs« des Angeklagten mit dem Feinde seien jedoch der feindlichen Koalition gefährliche politische und militärische Informationen zugetragen worden, womit sich der Angeklagte nach Artikel 78 des Code pénal strafbar gemacht habe.51 Vergebens wies Demange darauf hin, dass Caillaux, der wegen Verstoßes gegen Artikel 79 (Komplott zur Untergrabung der äußeren Sicherheit des Staates) und gegen Artikel 77 (Aufnahme von Verbindungen mit dem Feind) unter Anklage gestanden habe, nun wegen eines Verbrechens verurteilt werde, von dem er schon deswegen nicht habe beweisen können, dass er es nicht begangen habe, weil er dieses Verbrechens gar nicht beschuldigt worden sei. Das Urteil lautete auf Gefängnis für die Dauer von drei Jahren, Aufenthaltsbeschränkung für die Dauer von fünf Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von zehn Jahren.52 Die Dauer der Gefängnishaft war darauf berechnet, die sofortige Freilassung des Verurteilten, der über zwei Jahre in Untersuchungshaft gehalten worden war, zu ermöglichen. Das Urteil fand die Zustimmung von 150 Senatoren; eine starke Opposition ließ sich jedoch auch durch die Gnadenarithmetik nicht umstimmen: 98 Senatoren gaben ihre Stimme für Freispruch ab.

      Als das Urteil 1920 schließlich gefällt wurde, kam es auf die Verurteilung des Verleumdeten kaum noch an. Aber in den trüben Wintertagen von 1917/18 war die Ausschaltung Caillaux’ von überragender Bedeutung gewesen. Und die Möglichkeit, Symbolbilder von anhaltender Wirkung zu prägen, auf die die Regierung in dieser kritischen Zeit besonders angewiesen war, hatte mit dem Klischee »Caillaux unter Beschuldigung des Landesverrats verhaftet« einen gewaltigen Auftrieb bekommen.

      Die Symbolik der Kriegszeit verblasste sehr schnell. Von ihr war nichts mehr übrig, als nach zehnjähriger Pause eine neue Linkskoalition unter Herriot zur Macht kam und sich mit der entzauberten und ernüchternden politischen Wirklichkeit der zwanziger Jahre auseinandersetzen musste.

      b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert

      Ungleich höher war der Einsatz im Beleidigungsprozess, den Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 - 1925) Ende 1924 zu führen genötigt war. Hier ging es nicht mehr um Probleme privater oder öffentlicher Moral. Auf dem Spiel stand hier die Legitimität des neuen republikanischen Staatswesens schlechthin; sie hing wesentlich mit der Beurteilung der historischen Rolle zusammen, die der erste Präsident des jungen Staates in den Januartagen 1918 gespielt hatte, sozusagen in der Inkubationszeit der Republik. Der gerichtlichen Austragung des Konflikts kam umso größere Bedeutung zu, als Eberts Amtszeit ihrem Ende entgegenging. Die Behandlung der Beleidigungsklage und ihr Ausgang mussten sowohl seine Bereitschaft, sich zur Wiederwahl zu stellen, als auch die Möglichkeit beeinflussen, ihn zum Bannerträger einer republikanischen Koalition bei der ersten Volkswahl des Präsidenten im Juli 1925 zu machen.

      Es ist mit Ebert nicht viel anders als mit dem anderen führenden europäischen Staatsmann der zwanziger Jahre, der gleich ihm aus den Reihen der Arbeiterbewegung gekommen war: J. Ramsay MacDonald (1866 - 1937). Auf der historischen Leistung beider Männer, die das Heranrücken der organisierten Arbeiterschaft an den Staat symbolisieren, liegen dunkle Schatten. In der Perspektive ist gerade Eberts Lebenswerk verzerrt, weil die großen geschichtlichen Gebilde, mit denen es aufs engste verbunden war, die Sozialdemokratische Partei der vorhitlerschen Zeit und die Weimarer Republik, gescheitert sind. Nachdem das Verhängnis seinen Lauf genommen hat, lassen sich jedoch zwei historische Momente

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