Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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Nach zweimaliger Berufung erreichte Powers 1903 einen dritten Prozess und – wurde zum Tode verurteilt. Noch einmal wurde das Urteil angefochten. Im vierten Prozess 1908, an dem auch republikanische Geschworene und ein etwas objektiverer Richter mitwirkten, kam es zu keinem Urteil, da unter den Geschworenen keine Einstimmigkeit zu erzielen war: Zehn von ihnen stimmten für Freispruch und befürworteten Begnadigung. Die Begnadigung kam, nachdem die Republikaner 1907 alle Staatsämter erobert hatten. Powers wurde nach der Freilassung in einem sicheren republikanischen Wahlkreis als Kongresskandidat aufgestellt und diente anschließend, ohne sich besonders bemerkbar zu machen, vier Gesetzgebungsperioden in Washington ab.

      Schon lange vorher hatte die Goebel-Affäre jede öffentliche Wirkung eingebüßt. Auf die Staatswahlen von 1903 hatte sie kaum einen Einfluss; Beckham wurde für eine volle Amtsperiode mit einer wesentlich größeren Mehrheit (26.450 Stimmen) gewählt, als sie in Kentucky in zehn Jahren vorgekommen war. Als die Tabakpächter 1907 das Banner der Rebellion gegen die Demokraten entrollten, war die Erinnerung an den Fall Goebel fast ganz verblasst. Vorübergehend sollten noch auf der politischen Bühne andere Morde und andere Begnadigungen auftauchen, aber keiner dieser Fälle war in ein so einzigartiges Geflecht politischer und juristischer Strategie verwoben; keiner von ihnen wurde zum Brennpunkt eines verzweifelten und allumfassenden Kampfes um die Macht.

      Im Detail ist der Fall Goebel hier erzählt worden, weil er so ungewöhnlich durchsichtig ist. Im brutalen Konflikt, von dem Kentucky 1900 geschüttelt wurde, verschmolz der politische Streit auf einzigartige Weise mit der strafrechtlichen Auseinandersetzung. Hätte es einen eindeutigen Beweis dafür gegeben, dass die Führer der Republikaner, um an der Macht zu bleiben und ihre Position im Staat zu festigen, auch vor Mord nicht zurückschreckten, so hätte wahrscheinlich das vereinte Gewicht politischer Interessen, empörten Rechtsbewusstseins und moralischer Entrüstung die Republikanische Partei zerschmettert. Der wirkliche Ablauf der Ereignisse brachte es aber mit sich, dass mit der Kette der Prozesse von 1900 die zentralen Fragen verwischt wurden. Der Teil der Öffentlichkeit, der nicht von vornherein Partei ergriffen hatte, gelangte zu keinem klaren Bild: Die Zeugenaussagen widersprachen einander, so mancher Zeuge wurde als höchst unglaubwürdig bloßgestellt, und der Schleier, der die Tatsachen verhüllte, konnte nicht zerrissen werden.

      Es wäre eine nur natürliche Reaktion gewesen, wenn sich Menschen weit und breit vom organisierten politischen Getriebe enttäuscht abgewandt und der Rechtspflege kein Vertrauen mehr entgegen gebracht hätten. Nichts dergleichen zeigte sich bei den Wahlen von 1900. Das politische Kräfteverhältnis blieb nahezu unverändert. Geringfügige Wahlenthaltung traf eher die Demokraten als die Republikaner. Der Riss in den Reihen der Demokraten war – wenn auch nur oberflächlich – zusammengeleimt worden; das genügte, der Partei eine schmale Mehrheit zu verschaffen. Dass es im Wahlkampf im Wesentlichen um Prozesse und Begnadigungen gegangen war, hatte kaum auf eine nennenswerte Zahl von Wählern Eindruck gemacht. Gerade die größeren Probleme der nationalen Politik, die beide Parteien in Kentucky aus dem Wahlkampf hatten heraushalten wollen, spielten bei der Stimmabgabe bezeichnenderweise eine größere Rolle als in den leidenschaftlich geführten Wahlkampfdebatten. Bryan siegte in Kentucky mit einer Mehrheit von 8.000 Stimmen, hatte also gegenüber seinem republikanischen Rivalen McKinley einen doppelt so großen Vorsprung wie Beckham gegenüber dem seinigen.

      Die Anklägerrolle, die die Demokraten auf sich genommen hatten, hatte ihnen offenbar in gewissem Umfang geschadet. Wären ihnen die Stimmen der Anhänger der Silberwährung, die sie 1899 verloren hatten, wieder zugefallen, so hätten sie weit mehr Stimmen auf sich vereinigen müssen, als Bryan mit seinen etwas über 200.000 Wählern hatte mobilisieren können. Darüber hinaus scheint die offizielle Mordbeschuldigung die Republikaner weniger Stimmen gekostet zu haben, als sie gleich an dem Tag, an dem Goebel ermordet wurde, verloren und im Lauf des Jahres auf dem Altar des »Kreuzes aus Gold« geopfert haben mögen, das die großen Monopole und die Goldwährung nach Bryans geflügeltem Wort dem amerikanischen Volk aufgebürdet hatten.

       3. Vom Sinn und Zweck des Landesverräterstigmas

      Die beiden Fälle, die hier zunächst besprochen werden, gehören noch der Übergangsära an, wie sie den Anfang der zwanziger Jahre kennzeichnete. Beide hängen mit politischen Vorgängen zusammen, deren Ursprung im Ersten Weltkrieg zu suchen ist. Ihre gerichtliche Behandlung beruhte auf Rechtsvorstellungen, die aus der Vorkriegszeit stammten. Aus der heutigen Perspektive lässt sich jedoch deutlich erkennen, dass in diesen Episoden bereits die politischen Sitten und Denkgewohnheiten einer späteren Zeit vorweggenommen waren.

      In beiden Prozessen wird das Bemühen sichtbar, die Mauer niederzureißen, die Rechtsprechung und Rechtslehre im 19. Jahrhundert zwischen dem Nichtdelikt der Gegnerschaft gegen die Politik der Regierung und dem Delikt des Landesverrats, zwischen Meinungsverschiedenheiten über den Kurs der nationalen Politik und tätigem Zusammengehen mit dem auswärtigen Feind errichtet hatten. Auf der vergrößerten politischen Bühne der Massendemokratie wurde das Räderwerk der Gerichte als Hilfsmechanismus für politisches Handeln in Anspruch genommen oder auch schon ganz in die Sphäre politischen Handelns eingegliedert. Die revolutionären Explosionen, für die der Zündstoff im Schützengrabenschlamm des Ersten Weltkriegs zusammengetragen worden war, zerstörten, was von der Scheidung von Opposition und Verrat, der großen Leistung der politischen Justiz in der vorhergehenden Periode, noch übriggeblieben war. Mit dieser Scheidung schwand aber das für sie entscheidende Element der Deliktbegrenzung dahin, das dazu beigetragen hatte, das menschliche Individuum vor politischem Machtmissbrauch des Staates oder privater Gruppierungen und Verbände zu schützen.

      Am ersten Fall, der zur Sprache kommt, lässt sich zeigen, wie das schwere Geschütz eines Landesverratsprozesses von der Regierung, die gerade an der Macht ist, zur Ausschaltung und Mundtotmachung eines politischen Gegners benutzt wird, wobei ihr die Ingangsetzung des Gerichtsverfahrens gleichzeitig dazu dient, die Bevölkerung enger an die Sache der Kriegführung zu binden und auf sie zu verpflichten. Der zweite Fall veranschaulicht die Möglichkeit, mit der Strategie eines politischen Derivatverfahrens die Karriere eines politischen Gegners zu vernichten, seine Wirksamkeit zu untergraben und verderbliche politische Symbolbilder zu prägen und sich festsetzen zu lassen. Zu dieser Strategie gehört es, dass man einen bestimmten Abschnitt aus der politischen Lebensbahn des bekämpften gegnerischen Politikers herausgreift und als kriminell unter Beschuss nimmt. Der angegriffene Politiker muss dann klagen und sich als Kläger, um seinen Ruf zu wahren, an seine Deutung der Vorgänge klammern, die der beklagte Angreifer als von seinem Standpunkt besonders ergiebig in verzerrendes Scheinwerferlicht zu rücken für richtig befunden hat.

      a) Der Oppositionsführer: Affäre Caillaux

      Im Herbst 1917 war Frankreich nach drei Jahren Krieg in einer wenig erfreulichen Verfassung. Die Stimmung der Zivilbevölkerung in der Heimat und der Soldaten an der Front war auf den tiefsten Stand seit Kriegsbeginn gesunken. Verluste an Menschenleben, Verschlechterung der Lebenshaltung, wirtschaftliche Zerrüttung und weitverbreitete Missstände in der Verwaltung hatten jegliche Begeisterung für die siegreiche Weiterführung des Krieges erdrückt. Nach dem langen Stillstand an der Marne hatte die Regierung, weitgehend englischem Druck nachgebend, eine kostspielige Offensive unter der Führung Robert Nivelles (1856 - 1924) angeordnet, der seit Dezember 1916 an der Spitze der nördlichen und nordöstlichen Armeegruppe stand. Die im April begonnene Angriffsaktion erreichte nichts anderes, als dass die vorher geplante Umgruppierung und Positionsbefestigung der deutschen Truppen beschleunigt wurde. Im Mai wurde Nivelle abberufen.

      Dass in Russland die Revolution ausgebrochen war, half noch weniger; das Verlangen nach baldiger Beendigung des Krieges wurde dadurch nur gefördert. Unruhen unter den Truppen nahmen zu. Ende des Sommers wurden offene Meutereien unter den französischen Heeresverbänden im Nahen Osten gemeldet und anschließend kam der seit langem schwelende Konflikt zwischen französischen und englischen Heerführern offen zum Ausbruch. Reibungen unter den Alliierten vermehrten sich

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