Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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einer ausländischen Regierung bezogen; oder schließlich zwischen zwei Verfahren über den Missbrauch der Polizeigewalt bei der Aushebung einer geheimen Zusammenkunft, wobei es in dem einen Fall um eine Einbrecher- oder Erpresserbande und im andern um eine zu illegalem Dasein verurteilte politische Partei geht.

      Trotz aller Verschiedenheit der politischen Hintergründe im einzelnen Fall stellt sich das Gerichtsverfahren den Anhängern dieser naiven Vorstellungen einheitlich und unverrückbar dar: Erst trägt die Anklagebehörde Belastungsmaterial zusammen, das zur Verurteilung ausreichen müsste, und nimmt die Hürde, die für sie der Untersuchungsrichter, die Grand Jury oder die Chambre des mises en accusation bedeutet, und dann prüft das zur Urteilsfällung berufene Gericht Tatsachen, Aussagen und Beweise und wendet das Gesetz an. Etwaigen Unterschieden im Verhandlungsgegenstand, in der Statur der beteiligten Personen oder Gruppen, im Grad des öffentlichen Interesses und in den zu erwartenden, vielleicht weitreichenden und vielfältigen Auswirkungen des Urteilsspruchs kommt nach dieser Auffassung keine wesentliche Bedeutung zu. Solche individuellen Züge, die in jedem Verfahren anders sind, müssten sich demnach auf Unwesentliches reduzieren lassen; dazu seien die technischen Möglichkeiten der Verteidigung und die durch Sonderprivilegien geschützte Stellung des Gerichts da. Zwar könnten die einen Prozesse in den Annalen der politischen Geschichte und die anderen in der chronique scandaleuse oder in den Epen des Versicherungsbetrugs figurieren, aber die Verschiedenheit der Materie berühre nicht Sinn und Zweck des Gerichtsverfahrens: die Tatsachen zu ermitteln und das geltende Gesetz auf sie anzuwenden. Von diesem Standpunkt aus gibt es keine Rechtfertigung für den Begriff »politischer Prozess«; er erscheint als billige Floskel einer sensationslüsternen Presse oder als dumme Ausrede eines Verlierers, der die Schuld nicht bei sich, sondern bei anderen sucht.

      Worum ging es denn, was stand auf dem Spiel, als der Mörder der Arztfrau aus Cleveland ermittelt werden sollte? Ein Mord war begangen worden, der wegen der gesellschaftlichen Position des Opfers und des einzigen greifbaren Mordverdächtigen besonders große Aufmerksamkeit auf sich zog. Man kann die große Spannung und Erregung abziehen; dann bleibt immer noch, dass Polizei und Anklagebehörde (sofern sie unkorrumpiert und tüchtig waren) nur ein Ziel im Auge haben konnten: Den Täter ausfindig zu machen. Sie mussten darauf ausgehen, erstens genug Tatsachen für die Eröffnung des Verfahrens aneinanderzureihen und zweitens dem Gericht so viel Belastungsmaterial vorzulegen, dass mit einem Schuldspruch gerechnet werden konnte. Vom Standpunkt der lokalen Bevölkerung und des Publikums überhaupt hatten Polizei und Anklagebehörde gute Arbeit geleistet: Der mutmaßliche Mörder wurde relativ schnell gefasst und vor Gericht gestellt; Ankläger und Verteidiger konnten im Gerichtssaal brillieren; der Angeklagte wurde für schuldig befunden und verurteilt. Den Geboten der Ruhe und Ordnung war Genüge getan worden. Den Menschen war das normale Gefühl der Sicherheit, das von einer ungewöhnlichen Mordtat leicht erschüttert wird und beim Entkommen eines unbekannten Mörders ganz und gar ins Wanken gerät, wiedergegeben worden, und sie hatten noch nicht einmal allzu lange darauf warten müssen.

      Lässt man den Nervenkitzel einer grusligen Mordgeschichte und seine Ausbeutung durch die Massenkommunikationsmedien, die zu jeder großen Gerichtsaffäre in unserer Gesellschaft die Begleitmusik liefern, beiseite, so ist das, worauf es ankommt, eben die Bejahung und Bekräftigung des gesellschaftlichen Ordnungssystems vermittels der öffentlichen Gerichtsverhandlung. Vom Standort des öffentlichen Anklägers, der den Staat vertritt, ist es nicht von zentraler Bedeutung, ob der Abgeurteilte und Verurteilte der mutmaßliche Täter X ist, oder ob ein hypothetischer anderer, ein Y oder ein Z, an seiner Stelle vor Gericht gestanden hat. Die unmittelbare Wirkung des Prozesses gegen X und seiner Verurteilung verschmilzt mit der weniger greifbaren, aber länger anhaltenden Wirkung der Wiederherstellung des Vertrauens zur öffentlichen Ordnung. Mehr können die Hüter der Ordnung von einem Kriminalprozess nicht erwarten, und mehr erwarten sie gewöhnlich nicht von ihm.

      Umgekehrt ist der Freispruch das einzige, worauf es dem Angeklagten ankommt. Für ihn stellt sich der Einsatz sehr hoch: Es geht um sein Leben, seine Freiheit, das Schicksal seiner Familie. Nur ihn betrifft der Sieg oder die Niederlage. Auch wenn dieser oder jener besondere Aspekt seiner Beweggründe oder seiner Lebensumstände, wie er im Prozess zutage tritt, für den Sozialhistoriker oder den Psychologen viel mehr bedeuten und ihnen dazu verhelfen mag, die Problematik einer ganzen Generation oder einer Gesellschaftsklasse in den Brennpunkt zu bekommen, findet der Prozess gleichwohl in der privaten und persönlichen Ebene des Angeklagten statt. Das Verfahren vor Gericht ist das letzte Glied einer langen Kette von Vorkommnissen, die hier nur insofern von Bedeutung sind, als sie in der persönlichen Geschichte des Angeklagten eine Rolle spielen. Für das politische Gebilde als Ganzes sind diese für die Beteiligten schicksalhaften Vorkommnisse nicht mehr als Einzelmeldungen aus dem Polizeibericht. Sie können auch als solche überaus interessant sein; bisweilen erschließen oder entlarven sie schlagartig verborgene Züge und Dimensionen der zeitgenössischen Kultur. Aber bei alledem haften sie im Gedächtnis eher als Einzelfälle denn als Angelegenheiten von gesellschaftlicher und geschichtlicher Tragweite.

      Im politischen Prozess erscheint das alles in einem anderen Licht. Das Räderwerk der Justiz und ihre Prozessmechanismen werden um politischer Ziele willen in Bewegung gesetzt, die über die Neugier des unbeteiligten Betrachters und das Interesse des Ordnungshüters an der Erhaltung der staatlichen Ordnung hinausgreifen. Hier ist dem Geschehen im Gerichtssaal die Aufgabe zugewiesen, auf die Verteilung der politischen Macht einzuwirken. Das Ziel kann zweierlei sein: Entweder bestehende Machtpositionen umzustoßen, indem man aus ihnen Stücke heraus bricht, sie untergräbt oder in Stücke schlägt, oder umgekehrt den Anstrengungen um die Erhaltung dieser Machtpositionen vermehrte Kraft zu verleihen. Ihrerseits können solche Bemühungen um die Wahrung des Status quo vorwiegend symbolisch sein oder sich konkret gegen bestimmte, sei es potentielle, sei es bereits in vollem Ausmaß wirksame Gegner richten. Manchmal kann es zweifelhaft sein, ob ein solches gerichtliches Vorgehen die bestehende Machtstruktur wirklich festigt; es kann passieren, dass es sie schwächt. Dass es aber in beiden Fällen darauf zielt, die jeweilige Machtkonstellation so oder so zu beeinflussen: Das eben macht das Wesen des politischen Prozesses aus.

      Einwenden lässt sich gewiss, dass hier »Macht« zu eng gefasst sei und dass das Gerichtsverfahren an einer viel breiteren Front als Instrument der Machtverschiebung eingesetzt werde. Jeder zivilrechtliche Streit, in dem es um die gegenseitigen Beziehungen großer wirtschaftlicher Unternehmungen oder um die Beziehungen zwischen solchen Unternehmungen und der öffentlichen Hand geht, schließt in Wirklichkeit den Versuch ein, eine Veränderung bestimmter Machtpositionen herbeizuführen oder zu verhindern. Viele nichtpolitische Strafverfahren können entschieden politische Wirkungen auslösen, zum Beispiel die politische Karriere des Staatsanwalts beeinflussen oder das Schwergewicht der Macht innerhalb einer Gewerkschaft, einer Regierungskörperschaft oder eines Konzerns verlagern. All das ist unbestritten. Was jedoch dem eigentlichen politischen Prozess seine besondere Färbung und Intensität verleiht und seine besondere Problematik kennzeichnet, sind nicht die langfristigen politischen Folgen sozialökonomischer Machtkämpfe und nicht die indirekten politischen Auswirkungen der Festigung oder Schwächung persönlicher Machtpositionen, sondern die Tatsache, dass der Prozess unmittelbar zu einem Faktor im Kampf um politische Macht wird.

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