Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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In den folgenden Abschnitten sollen die skizzierten Kategorien politischer Prozesse an konkreten Fällen dargetan werden. Dabei werden auch historische Hintergründe, Vorgeschichte und politische Auswirkungen zur Sprache kommen.
2. Der Mordprozess eine politische Waffe
Vielerlei lässt sich in politischen Konflikten mit einem Kriminalprozess anfangen. Wenn ein Verbrechen unzweifelhaft vorliegt, kann die Person des vermeintlichen oder wirklichen Täters die Gelegenheit bieten, aus dem Prozess politisches Kapital zu schlagen. Oder der Prozess selbst entspringt – zum Beispiel bei Korruptionsbeschuldigungen – unablässigen Bemühungen gegnerischer politischer Gruppen, sensationellen Enthüllungen einer Zeitung, die ihre Auflage zu erhöhen sucht, oder der hartnäckigen Verfolgungssucht eines Menschen, der eine persönliche Rechnung zu begleichen hat.
Ebenso gut kann es sein, dass sich eine neue Elitegruppe, der giftsprühende Angriffe auf die Ehre und Sauberkeit ihrer Vorgänger zur Macht verholfen haben, einen Gewinn davon verspricht, dass sie die Vergangenheit der Besiegten durchkämmt und genug Schmutz aufwirbelt, um die Männer des gestürzten Regimes auf die Anklagebank zu bringen. Machthaber vom totalitären Schlage, die gerade an die Macht gekommen sind, können selten der Versuchung widerstehen, mit der alten Ordnung liierte Gruppen, die kaum je den Gefahren politischer Strafverfolgung ausgesetzt waren, auf besondere Art in Misskredit zu bringen: Geistlichen einer Kirche, der man nicht direkt an den Wagen fahren kann, werden beispielsweise Anklagen wegen homosexueller Betätigung, Steuerhinterziehung oder Devisenvergehen angehängt. Dem Gegner werden kleine Unebenheiten auf dem Wappenschild angekreidet (die sich allerdings gegenüber den Verunzierungen auf dem Wappenschild der neuen Herren höchst harmlos ausnehmen), und dem Publikum wird das erschütternde Panorama einer Gesellschaft vorgeführt, die an innerer Entartung hätte eingehen müssen, wäre sie nicht im letzten Augenblick durch den wundertätigen Eingriff der neuen Machthaber gerettet worden.
Möge die Rahmengeschichte ein belangloser Vorgang aus dem Leben des Alltags, der geplante und vorbereitete Anschlag einer gegnerischen Organisation oder folgerichtige und systematische Ehrabschneiderei sein: Es gibt kaum eine Gattung krimineller Delikte, die banalsten und die ungewöhnlichsten nicht ausgenommen, die man nicht dazu benutzen könnte, politische Leidenschaften zu entfachen. Höchst dramatisch lässt sich die Aufführung gestalten, wenn die Anklage auf Mord lautet, das Mordopfer ein Parteiführer und der Angeklagte ein prominenter Vertreter der Gegenpartei ist. Diese Art Feuerwerk prasselte auf die politische Bühne eines amerikanischen Gliedstaats, des Commonwealth of Kentucky, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts hernieder.
Zum ersten Mal seit 1859 hatten es die Republikaner 1895 fertiggebracht, die Gouverneurwahlen von Kentucky zu gewinnen: Eine wirtschaftliche Flaute und die Spaltung der Demokraten in der Frage der Silberwährung hatten die Wahl des republikanischen Kandidaten William O. Bradley mit der geringfügigen Mehrheit von 8.912 Stimmen ermöglicht. Die Volksvertretung des Staates blieb jedoch in den Händen der Demokraten. Nachdem sie 1897 eine starke Gruppe von Anhängern der Goldwährung aus der Partei hinausgedrängt hatten, wurde ihre Organisation mit eiserner Faust von William Goebel (1856 - 1900), Fraktionsführer im Kentucky-Senat, regiert. Goebel hatte sich in zähen und erbitterten Kämpfen emporgearbeitet. Weder ein Anhänger der südlichen Feudaltradition noch ein Vorkämpfer der Bürgerkriegsveteranen der Südstaaten, stand er in enger Verbindung mit dem demokratischen Parteiapparat der industriell höher entwickelten nördlichen und westlichen Kreise des Staates; seinen Aufstieg im politischen Getriebe verdankte er einer schroffen Kampfhaltung gegen mächtige Interessentengruppen, namentlich gegen die Eisenbahngesellschaften und ihre republikanischen Fürsprecher. Unter seiner Führung heimsten die Demokraten bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften des Staates 1897 und zum Kongress 1898 beträchtliche Gewinne ein; der Machtkampf blieb unentschieden.
Das animierte die Demokraten dazu, ihren Wahlmisserfolg von 1895 auf Wahlbetrug und Fälschung des Wahlergebnisses durch Republikaner und demokratische Goldanhänger zurückzuführen. Auch noch vier Jahrzehnte später konnte Woodson, einer der Hauptmitstreiter Goebels, Gründer und Herausgeber des Owensboro Messenger, Verfechter der Bergarbeiterinteressen in West-Kentucky und Apostel der sozialen Reform, voller Empörung schreiben: »Es war allgemein bekannt, daß Bryan {der demokratische Präsidentschaftskandidat} in Kreisen wie Jefferson (Louisville) und in den Bergen, wo die Goldmänner mit den Republikanern die Bestellung der Wahlvorstände in der Hand hatten, in den Wahlvorständen, unter den Wahlaufsichtsbeamten und unter den offiziellen Wahlberechtigungsprüfern keine Vertreter hatte.«6 In diesem Sinne unternahm es Goebel, durch die 1897 gewählte Gesetzgebende Versammlung ein neues Wahlgesetz durchzupeitschen. Das Gesetz zentralisierte den Apparat der Wahlüberwachung und stattete die von der Gesetzgebenden Versammlung zu wählenden Wahlleiter mit erweiterten Vollmachten aus; es war dann Sache dieser Wahlleiter, Wahlbeauftragte für die einzelnen Kreise zu berufen, die ihrerseits die Wahlvorstände für die Wahllokale bestellen sollten. Sofern Wahlergebnisse angefochten wurden, sollten Prüfungsausschüsse der Gesetzgebenden Versammlung über die Einsprüche entscheiden, und die Besetzung dieser Ausschüsse wurde dem Los, ohne garantierte Minderheitsvertretung, überlassen.7
Die Republikaner sahen in diesem Manöver einen brutalen Machtmissbrauch, der dem neugewählten republikanischen Gouverneur jede Möglichkeit, die Durchführung der Wahlen zu beeinflussen, nehmen und sie in vollem Umfang demokratischen Parteigängern ausliefern sollte.8 Die Republikaner fühlten sich von »Goebels Wahlgesetz« unmittelbar bedroht und prangerten es weit und breit als heimtückischen Angriff auf demokratische Institutionen an. Das Gesetz gefährdete aber auch die Machtpositionen abtrünniger Demokraten, vor allem der »Goldmänner«, die Industrieinteressen vertraten und die bis dahin einige lokale Parteiorganisationen beherrscht hatten. Einer der einflussreichsten Propheten der Industrialisierung, Henry W. Watterson, ein halbes Jahrhundert lang Chefredakteur des Louisville Courier-Journal, sprach von einer »monströsen Usurpation der Macht durch ein Häuflein skrupelloser Menschen«.9
Das umstrittene Wahlgesetz war nur eine der verwundbaren Stellen in Goebels Rüstung. In den lokalen Parteiorganisationen verfügten sowohl die agrarischen Traditionalisten als auch die Goldmänner über beträchtlichen Einfluss. Auf dem Parteitag der Demokraten, der die Kandidaten für die Gouverneurwahl aufstellte, entfielen auf Goebel von insgesamt 1.092 Stimmen zunächst nur 168 ½. Erst im 26. Wahlgang brachte er es schließlich mit geheimen geschäftlichen Abmachungen, Geschäftsordnungstricks und einer Taktik, mit der die ermüdeten und verwirrten Delegierten überfahren wurden, zu einer Mehrheit von 561 gegen 529 Stimmen. Das war ein zweifelhafter Sieg: Mit seinen fragwürdigen Methoden hatte sich Goebel das Vertrauen und die Achtung vieler Freunde verscherzt. Es kam eine neue Spaltung der Partei, und es bildete sich eine rebellische Organisation der »demokratischen Anhänger ehrlicher Wahlen«; außerdem stellten die Populisten, die sich acht Jahre lang damit begnügt hatten, ihre Stimmen den Demokraten zu geben, eigene Kandidaten auf. Wie üblich gewannen die Demokraten die Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung,10