Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Taylor erhielt zwar nur 48,4 Prozent der abgegebenen Stimmen (gegen 50,1 Prozent für den republikanischen Kandidaten McKinley bei den Präsidentschaftswahlen von 1896), aber auf ihn entfielen 2.383 Stimmen mehr als auf Goebel; 4 Prozent der Wähler hatten sich für Splitterlisten entschieden. Nach den Feststellungen der Wahlleiter hatten die einzelnen Kandidaten erhalten: Taylor 193.714, Goebel 191.331, Brown 12.140, Blair 3.038 Stimmen.11 Neben dem Wahlgesetz, das viele potentielle demokratische Wähler abgeschreckt hatte, war Goebel sein rücksichtsloses Vorgehen zum Verhängnis geworden: Er büßte über 15.000 Stimmen sicherer demokratischer Wähler ein.
Kindisch provozierend hatte Goebel geprahlt: »Ihr könnt mich nicht mit höheren Stimmen schlagen, und ihr könnt mich nicht mit dem Zählen der Stimmen schlagen; das Wählen werden die Republikaner, das Zählen aber die Demokraten besorgen.«12 Trotz der Parteitreue der Staatswahlleiter und Kreiswahlbeauftragten hatte Goebel auch das Zählen nicht geholfen. Den Demokraten blieb nur noch der Appell an die Wahlprüfungsausschüsse der Gesetzgebenden Versammlung: Wenigstens dazu musste »Goebels Gesetz« gut sein. Als die neue Volksvertretung am 2. Januar 1900 zusammentrat, beschloss der Staatsausschuss der Demokratischen Partei – angeblich gegen Goebels Rat –, die Ergebnisse der Wahlen für die Posten des Gouverneurs und des stellvertretenden Gouverneurs anzufechten. Angeführt wurden: Gesetzwidriger Druck auf die Wähler, Nötigung des Bahnpersonals durch die Eisenbahngesellschaften, Einschüchterung der Bevölkerung durch die in den Städten zur Verhinderung von Unruhen stationierten Truppen, dazu in mehreren Kreisen gröbliche Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahl, unter anderem Verletzung des Wahlgeheimnisses durch Ausgabe durchsichtiger Stimmzettel.13 Trotz oder dank den Zufällen der Auslosung waren in die Wahlprüfungsausschüsse auch einige Republikaner gelangt, aber die Mehrheit stellten unversöhnliche Demokraten. An ihrer Entscheidung war kaum zu zweifeln.
Die Führer der Republikaner, die bereits die Regierungsämter übernommen hatten, beschlossen durchzugreifen. Ihr zum Staatssekretär (etwa Chef der Staatskanzlei) gewählter »starker Mann«, Caleb Powers, ein Mann aus den Bergen, Zögling der Kadettenanstalt West Point und berufsmäßiger Prediger der nationalen Sammlung, holte Verstärkung: Am 25. Januar trafen in Frankfort, der Hauptstadt von Kentucky, 1.200 bewaffnete Gebirgseinwohner ein; siebzehn Eisenbahnwagen waren zu diesem Zweck von der Louisville-Nashville-Eisenbahn gestellt worden. Die öffentliche Meinung – und damit auch die Gesetzgebende Versammlung – sollte auf »friedliche« Manier unter Druck gesetzt werden; ein Teil der Gewehre, die die Bergbewohner mitgebracht hatten, wurde in Staatsministerien abgestellt: In der Generaladjutantur (Kommando der Staatsmiliz) und in der Landwirtschaftsverwaltung. Die Stadt war zum Feldlager geworden. Republikanische Beamte sperrten das Parlamentsgebäude ab und verhinderten die entscheidende Sitzung der Gesetzgebenden Versammlung. Als sich Goebel am 30. Januar in Begleitung anderer demokratischer Politiker auf den Weg zum Parlament begab, wurde er von Gewehrkugeln getroffen. Die Schüsse waren aus dem Amtsgebäude des Staatssekretärs abgegeben worden. Staatssekretär Powers hatte die Stadt eine Stunde früher verlassen.
Unterdes hatten die Wahlprüfungsausschüsse ihre Berichte erstattet. Ohne nochmalige Zählung der Stimmen hatten sie der Anfechtungsklage der Demokraten in vollem Umfang stattgegeben und der Gesetzgebenden Versammlung empfohlen, die Wahl des Republikaners Taylor und seines Stellvertreters für ungültig zu erklären. Am 31. Januar trat schließlich das Plenum der Gesetzgebenden Versammlung zusammen; die Ausschussberichte wurden gebilligt und Goebel zum rechtmäßig gewählten Gouverneur, der Demokrat J. Cripps Wickliffe Beckham zu seinem Stellvertreter erklärt. Am selben Tag wurde Goebel, von Ärzten umringt, auf dem Krankenbett als Staatsoberhaupt des Commonwealth vereidigt. Am 3. Februar erlag er seinen Wunden. Beide Parteien beanspruchten die Staatsexekutive als rechtmäßigen Besitz. Das Chaos drohte in Bürgerkrieg umzuschlagen. Als amtierender Gouverneur vereidigt, hatte Beckham am 1. Februar einen Befehl erlassen, mit dem der gewählte republikanische Generaladjutant des Kommandos der Staatsmiliz enthoben und durch den Demokraten John B. Castleman ersetzt wurde. Ein bewaffneter Zusammenstoß schien unvermeidlich.
Nüchternere Parteiführer fanden sich dennoch am Verhandlungstisch zusammen. Da die Banken die Einlösung der von beiden Parteien ausgestellten Regierungsschecks verweigerten, kam am 6. Februar eine Einigung zustande, mit der die offene Schlacht verhindert werden konnte. Neben anderen von Beckham und dem republikanischen Gouverneurstellvertreter John Marshall unterzeichnet, verpflichtete der Kompromiss beide Parteien zur Anerkennung des Beschlusses der Gesetzgebenden Versammlung bei gleichzeitiger Anrufung der Gerichte.14 Das war immerhin ein Waffenstillstand, auch wenn der republikanische Gouverneur Taylor das Abkommen verwarf und nicht zu befolgen gedachte. Am 6. April entschied das Appellationsgericht von Kentucky – drei demokratische und zwei republikanische Richter (von denen nur einer ein abweichendes Votum abgab) –, dass die Gesetzgebende Versammlung im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Befugnisse gehandelt und dass es weiteres nicht zu prüfen habe.15 Und am 21. Mai stimmte das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten dieser Entscheidung zu und stellte das Verfahren wegen Unzuständigkeit ein.16 Nur Bundesrichter John M. Harlan (1833 - 1911) war anderer Meinung. Er fand, das Recht auf ein Amt sei ein Eigentumsrecht und das Oberste Gericht müsse sich – im Sinne einer damals beliebten Konstruktion des due process – für zuständig erklären und das Urteil des Appellationsgerichts von Kentucky auf Grund des Vierzehnten Verfassungszusatzes (Schutz staatsbürgerlicher Rechte gegen einzelstaatliche Übergriffe) aufheben; die Gesetzgebende Versammlung von Kentucky habe »unter Außerachtlassung aller Gesetze und in äußerster Mißachtung des verfassungsmäßigen Rechtes freier Menschen, ihre Herrscher zu wählen«, gehandelt.17 Allerdings war Harlan selbst ein prominenter republikanischer Ex-Politiker aus Kentucky; vorher hatte er freilich als fanatischer »Konservativer« in den Reihen der Republikaner die Rechte der Gliedstaaten gegen Eingriffe des Bundes verteidigt und 1865 sogar eine wütende Pressekampagne gegen den Dreizehnten Verfassungszusatz (Abschaffung der Sklaverei) lanciert, weil er einen »flagranten Einbruch in das Recht der Selbstverwaltung« darstelle.18 Dieser nicht ganz konsequente Jurist konnte sich indes gegen seine Kollegen nicht durchsetzen. Die Demokraten hatten die erste Runde gewonnen.
Schon aber begann die zweite Runde. Die Gouverneurnachwahl für die von Goebel nicht wahrgenommene Wahlperiode sollte im November stattfinden. Der demokratischen Führung kam es entscheidend darauf an, die Aufmerksamkeit der Wähler vom Wahlgesetz, das so viele Proteste ausgelöst hatte, und von der einseitigen Wahlentscheidung der Gesetzgebenden Versammlung abzulenken. Wie wollte man das besser erreichen, als indem man die Republikanische Partei der Mitschuld an Goebels Ermordung bezichtigte? »Die Republikaner sagten: ›Sie haben die Wahlen in ihr Gegenteil umgefälscht‹, und die Demokraten antworteten: ›Sie haben unseren Gouverneur ermordet‹«.19 In den sechs Monaten, die folgten, konzentrierten die, wie es in der republikanischen Wahlpropaganda hieß, »vergoebelten« Demokraten alle Anstrengungen darauf, die Schuld der Republikaner anzuprangern. Für die Festnahme und Strafverfolgung der Mörder setzte die Gesetzgebende Versammlung mit ihrer demokratischen Mehrheit den für die damaligen Zeiten phantastischen Betrag von 100.000 Dollar aus!
Dass man Schüsse abfeuerte, um einen Menschen zu töten, war nach dem Sittenkodex, der im 19. Jahrhundert in Kentucky galt, weder außergewöhnlich noch besonders aufregend. Die Ermordung Goebels fiel nur insofern aus dem Rahmen, als sie die einzigartige Gelegenheit bot, einer der führenden Parteien ein Mordkomplott in die Schuhe zu schieben.
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