Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Das Geheimnis seines Appells lag in dem besonderen Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft, dessen Würgegriff die Dritte Republik etwa um die Jahrhundertwende deutlich zu spüren begann. Seit den Tagen des Zweiten Kaiserreichs hatte die Masse der kleinen Eigentümer ihre Ersparnisse immer wieder in mündelsicheren Staatspapieren angelegt. Faktisch konnte sich der Staat Ausgaben nur leisten, wenn er Schulden machte; zugleich ging ein zunehmender Teil der Ersparnisse in Anleihen, die in Frankreich von ausländischen Regierungen, namentlich vom zaristischen Russland, aufgelegt wurden. Die Auslandsinvestitionen der Kleinbesitzer waren nicht ohne Einfluss auf die Führung der auswärtigen Politik. Aus ihr erwuchs ein Bündnissystem, das die Erhaltung und den Ausbau eines großen Militärapparates nötig machte; dem Staatshaushalt wurden ständig neue Lasten aufgebürdet. Da der Staat den Kapitalmarkt abgraste, gab es kaum Kapitalzufuhr für die Industriewirtschaft – außer in einem privilegierten Bereich: Die »Rüstungsmagnaten« profitierten von den vermehrten Waffen- und Munitionsaufträgen; ihrerseits wurden diese Aufträge aus den französischen oder ausländischen Staatsanleihen bezahlt, die in erster Linie von Frankreichs kleinen Sparern und Rentnern gezeichnet wurden. Die ständigen Budgetschwierigkeiten und die wachsende Macht der Rüstungsindustrie (und der hinter ihr stehenden Stahl- und Eisenbarone) vermehrten auf dem politischen Kampfterrain den Druck konservativer und militaristischer Strömungen. In der Haltung der Wähler zeigte sich wiederholt beträchtliches Unbehagen ob dieser Machtkonstellation.
Caillaux’ Ausweg aus dem Labyrinth war eine Kombination finanzieller und politischer Maßnahmen. Er kämpfte für die Besteuerung der hohen Einkommen, um den Anleihebedarf des Staatshaushalts zu reduzieren. Er wirkte darauf hin, dass die Ersparnisse des kleinen Mannes in Industriewerte31 oder in Obligationen von Auslandsgesellschaften für die Erschließung unterentwickelter Länder flossen. Er befürwortete – das hing auch damit zusammen – die wirtschaftliche Zusammenarbeit und politische Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland. Seine weitreichenden außenpolitischen Ziele verflochten sich mit seinem Finanz- und Wirtschaftsprogramm. Die Verwirklichung seiner Pläne musste Frankreich in die Lage versetzen, sich von den finanziellen und militärischen Verpflichtungen loszusagen, die es an die russischen Balkan-Abenteuer ketteten. Die außen- und innenpolitische Strategie stände dann nicht mehr unter dem Diktat der Schwerindustrie und ihres forcierten Verlangens nach Rückeroberung der lothringischen Eisenerze. Die »Internationale der Metallindustrie« hätte keine Gewalt mehr über die französische Politik. Mit der Dauerbefriedung an der Ostgrenze wäre Abbau der Heeresbestände und des Rüstungsprogramms möglich. Und mit der Zusammenarbeit der französischen Hochfinanz und der deutschen Industrie in unterentwickelten Teilen der Welt wäre militärische Machtsteigerung unnötig, das strategische und politische Interesse am Kolonialbesitz verringert und Frankreichs Abhängigkeit von der englischen Seeherrschaft und der Weltreichsstrategie Englands entscheidend abgeschwächt.
Das war kein abstraktes Theoretisieren. Zum ersten Mal in der französischen Geschichte wurde 1911/12 unter der Ministerpräsidentschaft Caillaux’ die progressive Einkommensteuer eingeführt, die niedrige Einkommen von der Besteuerung ausnahm. Um dieselbe Zeit konnte Caillaux den deutsch-französischen Konflikt um Marokko beilegen und damit die Voraussetzungen für eine gemeinsame wirtschaftliche Betätigung in Afrika schaffen.32 Als Hauptverantwortlicher für das deutsch-französische Abkommen von 1911 stieß Caillaux auf erbitterten Widerstand in den Reihen der Regierungskoalition und wurde von seinem eigenen Außenminister desavouiert. Sein Kabinett fiel.
Umso intensiver wurden seine finanziellen Operationen. Er bemühte sich hartnäckig darum, die Investitionen der französischen Kleinbesitzer aus den russischen Anleihen abzuziehen und für die Finanzierung der landwirtschaftlichen und industriellen Erschließung von Gebieten außerhalb der französischen Kolonien zu mobilisieren. Er gewann französisches Kapital für den von deutscher Seite begonnenen Einbruch in Domänen englischer Finanzhoheit. Im Jahre 1913 zum Führer der Radikalen Partei gewählt und von neuem als Finanzminister in die Regierung berufen,33 gab Caillaux den Anstoß zu einer breiten Massenbewegung gegen den Ausbau des Heeres und vor allem gegen die dreijährige Dienstpflicht. Wieder war eine angriffslustige Linkskoalition auf dem Vormarsch. Im März 1914 waren Kammerwahlen fällig, und alles sprach dafür, dass die Radikalen und die Sozialisten sie gewinnen würden. Eine Friedens- und Reformregierung unter der Führung Caillaux’ und mit tätiger Unterstützung des großen sozialistischen Volkstribuns Jean Jaurès war im Werden.34
In diesem Augenblick kam in einem unheimlichen Durcheinander von politischen und persönlichen Verwicklungen eine tragische Wendung. Caillaux’ Tätigkeit hatte an vielen Stellen wilden Zorn und tobende Wut ausgelöst. Industriemagnaten, Generale, Zeitungsverleger, deren Käuflichkeit er hatte enthüllen helfen, Royalisten, die sich von den Hasstiraden der Action Française inspirieren ließen, und ganze Scharen von Politikern des rechten Flügels, kurzum alle, die jahrelang gegen Dreyfus gehetzt hatten, verspritzten gegen Caillaux ihr konzentriertes Gift. Äußerlich unberührt, hatte Caillaux für seine Widersacher nur Spott und Hohn übrig; er ließ es sich nicht nehmen, sie zu reizen und zu provozieren. Einer der brillantesten Köpfe in den Annalen der französischen Parlamentsgeschichte und als politischer Schriftsteller beredt und überzeugend, war Caillaux von seiner Bedeutung nicht wenig eingenommen und nicht abgeneigt, seine intellektuelle Überlegenheit und seinen politischen Scharfblick über Gebühr zur Schau zu stellen. Er gab gern zu verstehen, dass ihm Publikumsreaktionen gleichgültig seien, und nahm auch im Privatleben und in persönlichen Beziehungen keine Rücksicht auf Meinungen und Urteile anderer. Er hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen und danach eine geschiedene Frau geheiratet. Privatbriefe, die Eheschwierigkeiten und Liebesgefühle mit großer Offenheit und Angelegenheiten von erheblicher öffentlicher Bedeutung mit Frivolität und Zynismus behandelten, wurden nicht sorgfältig verwahrt und gingen von Hand zu Hand. Einige erreichten die Zeitung Figaro, die Caillaux am meisten nachstellte. Sie druckte ein paar Leseproben ab und kündigte saftige Enthüllungen an. Von Angst und Sorge getrieben, stürzte Frau Caillaux am 17. März 1914 zur Redaktion des Figaro und gab mehrere Schüsse auf den Redakteur Calmette ab. Die Schüsse waren tödlich.
Der Politiker Caillaux war lahmgelegt. Die herrschenden Sitten verlangten, dass er sich bis zur gerichtlichen Entscheidung die größte Zurückhaltung auferlege. Ohne zu zögern, gab Caillaux sein Regierungsamt auf und schied überhaupt aus dem politischen Getriebe aus; er kümmerte sich nur noch um die Verteidigung seiner Frau. In den entscheidenden Sommermonaten des Jahres 1914 gab es keinen Politiker Caillaux.35 Frau Caillaux wurde von einem Pariser Geschworenengericht freigesprochen.
Seit dem Ausbruch des Krieges war es mit der Hoffnung auf eine Linkskoalition vorbei. Jaurès war ermordet worden. Caillaux war praktisch isoliert und hatte mit politischen Entscheidungen nichts zu tun. Man fürchtete ihn immer noch. Seine außenpolitischen Ansichten hatten sich nicht gewandelt; auch machte er kein Geheimnis daraus, dass ihm ein baldiges Ende des Krieges wichtiger schien als Frankreichs Sieg. Aber er blieb der aktiven Politik fern und äußerte sich nicht in der Öffentlichkeit. Er trat in den Dienst der Armee und zankte sich mit seinen Vorgesetzten. Die Regierung forderte ihn auf, jenseits des Ozeans Rohstofflieferungen zu organisieren. Caillaux übernahm den Auftrag; später wurde ihm für die geleisteten Dienste hohes Lob zuteil.
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