Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich blieb Caillaux in seinem gesellschaftlichen Umgang wie immer unvorsichtig und wenig wählerisch. Er unterhielt Beziehungen zu einem etwas anrüchigen Finanzmakler namens Bolo, der sich später als deutscher Sonderagent für Pressebestechungen und Zeitungskauf entpuppte. Er schrieb Artikel für die Zeitung Bonnet Rouge, die sich von der Unterstützung der Vorkriegspolitik Caillaux’ erst zur Propaganda für den Sieg und dann zur Politik des Friedens bekehrt hatte und deren geschäftsführender Redakteur Duval beim Einlösen schweizerischer Bankschecks gefasst wurde, deren Ursprung aus deutschen Regierungsfonds ermittelt werden konnte. Und er kam mit dem Journalisten Almereyda zusammen, der sich der Reihe nach als halber Anarchist, als Kriegspropagandist und zuletzt als Kriegsgegner und Regierungskritiker betätigt hatte und dem nun auch vorgeworfen wurde, im Dienst der deutschen Regierung zu stehen. Caillaux’ Schwäche für diese zwielichtigen Gestalten stammte aus der Zeit des Prozesses gegen seine Frau: Damals hatten sie ihm als Leibwächter, Claqueure und Presseagenten manchen Dienst erwiesen, und er glaubte ihnen zu Dank verpflichtet zu sein. Schlimmer noch war, dass er nicht für nötig gehalten hatte, die zuständigen Behörden darüber zu unterrichten, dass deutsche Agenten auf ziemlich durchsichtige Weise versucht hatten, mit ihm brieflich oder durch Mittelsleute Verbindungen aufzunehmen. Bolo und Duval wurden verurteilt und hingerichtet. Almereyda beging im Gefängnis Selbstmord. Und der Unteragent, der an Caillaux herangetreten war, fiel der Polizei in die Hände.
Anfang 1917 wurden Caillaux und seine Frau von einer Horde nationalistischer Rowdys überfallen. Um sich von diesem Schock zu erholen, reisten sie nach Italien. Dort verkehrte Caillaux in Kreisen, die der Kriegspolitik der italienischen Regierung kritisch gegenüberstanden; auch in diese Kreise hatte sich, wie sich später herausstellen sollte, ein feindlicher Agent eingeschlichen. Im Gespräch mit dem einzigen italienischen Politiker von der »richtigen« Couleur, dessen er habhaft werden konnte, machte Caillaux kein Hehl aus seiner wirklichen Meinung. Mit den üblichen Entstellungen und Übertreibungen wurde den Pariser Behörden nicht nur über diese und ähnliche Unterhaltungen, sondern auch noch über die angeblich defätistischen Ansichten berichtet, die Caillaux auf der Heimreise einem Schlafwagenschaffner offenbart haben sollte.
In Frankreich verharrte Caillaux in der politischen Passivität. Im Parlament schwieg er. Die einzige politische Ansprache, die er vor seinen Wählern hielt, unterschied sich kaum von den Durchhaltereden anderer Politiker.
Bei seiner Abreise nach Italien hatte er sich kein Bild davon gemacht, wie lange er wegbleiben wollte, und für den Fall eines längeren Auslandsaufenthalts alle möglichen Papiere mitgenommen. Diese Papiere waren in einem Banksafe in Florenz geblieben, und Caillaux kam nicht auf die Idee, dass er sich damit bei Feinden und Aufpassern besonders verdächtig gemacht hatte. Als die Feinde gegen Ende des Jahres losschlugen, verursachten die »Geheimpapiere in Italien« eine böse Sensation. Auf Ansuchen der französischen Regierung ließen die italienischen Behörden das Bankfach öffnen. Der Presse wurde die Version serviert, dass Aktienpakete im Werte von Millionen Francs gefunden worden seien; kreischende Schlagzeilen malten das phantastische Vermögen aus, das Caillaux aus dem Lande herausgezogen habe, um dessen wirtschaftliche Abwehrkraft zu schwächen. (Die Richtigstellung kam später in einer kaum erkennbaren Zeitungsnotiz.)
In Wirklichkeit hatte das »Versteck« in Florenz hauptsächlich Manuskripte enthalten. Ihnen wandte die Anklagebehörde ihre besondere Aufmerksamkeit zu. Eins der Manuskripte behandelte die Ereignisse, die zum Ausbruch des Krieges geführt hatten: Die Rolle verschiedener französischer Politiker kam zur Sprache, Pardon wurde nicht gegeben, und Poincaré kam besonders schlecht weg. Hieß das nicht, das Ansehen der nationalen Führung in der Zeit schwerer Bedrängnis schädigen? In einem anderen Schriftstück hatte sich Caillaux zu einem früheren Zeitpunkt – unter der Überschrift »Rubikon« – Gedanken darüber gemacht, was er zu tun haben würde, falls er wieder an die Regierung käme. Darin war die Rede von einer Vertagung des Parlaments auf zehn Monate, von Notstandsermächtigungen für die Regierung für die Dauer der Parlamentsvertagung, von einem Hochverratsverfahren gegen die Monarchisten von der Action Française, Caillaux’ urälteste Feinde. War das nicht ein hochverräterischer Machtergreifungsplan?
Als Caillaux 1920 seinen Richtern, den Senatoren als Haute Cour, gegenüberstand, produzierte der Ankläger – irgendwie musste das Prestige des Präsidenten aus der Kriegszeit und der ihm gefügigen Parlamentsmehrheit gewahrt bleiben! – den bizarren Einfall, den Inhalt der florentinischen Papiere als crimen laesae maiestatis zu behandeln. Caillaux beschränkte sich darauf zu bemerken, mehr als hundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte gehe es doch wohl nicht an, unveröffentlichte private Notizen zur Grundlage eines Strafverfahrens zu machen.38 (Dreihundert Jahre und ein halbes Jahrzehnt, hätte er hinzufügen können, seien seit 1615, seit dem Fall Edmund Peacham,39 verstrichen, in dem diese Art Anklage eindeutig verworfen worden war.) Nicht einmal die dem Regime Poincaré-Clemenceau treuen Senatoren, die einen beträchtlichen Teil des Gerichtskollegiums bildeten, ließen sich einreden, dass das Strafgesetz die politische Tätigkeit der Mitglieder einer Kriegsregierung vor jeglicher Kritik schütze. In der Urteilsbegründung wurden die Papiere aus Florenz nur in dem Sinne erwähnt, dass ihnen Hinweise auf die Motive des Angeklagten zu entnehmen seien.40
Sogar um ein so dünnes und rissiges Netz zu flechten, braucht man Zeit. Dass der Prozess Caillaux immer wieder hinausgeschoben wurde, war aufschlussreich genug, denn ernste politische Hürden waren nicht zu nehmen. Keinerlei Schwierigkeiten bereitete die Aufhebung der parlamentarischen Immunität: Caillaux selbst verlangte ein regelrechtes Gerichtsverfahren. Die Immunitätsdebatte in der Kammer im Dezember 1917 bot ihm eine gute Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen; er ließ sie nicht ungenutzt und hielt eine der eindrucksvollsten Reden seiner langen Laufbahn. Er bestritt nicht, dass er es im Umgang mit verdächtigen Gestalten an Vorsicht habe fehlen lassen; umso größeren Nachdruck legte er auf die lebenswichtigen Probleme, die die Nation – über die bloßen Kriegsmühen hinaus – zu lösen habe. Er versäumte es nicht, den einstigen Journalisten Clemenceau, den mutigen Wortführer im Kampf um Dreyfus, mit dem Premier Clemenceau zu vergleichen, der einen neuen Fall Dreyfus inszeniere. An der Entscheidung des Parlaments vermochte Caillaux’ rednerisches Glanzstück nichts zu ändern. Sie stand im Voraus fest: Einen Monat früher, am 20. November, hatte das Kabinett Clemenceau in einer Abstimmung, in der 418 Abgeordnete für die Regierung, 65 gegen sie stimmten und 41 sich der Stimme enthielten, das Vertrauensvotum erhalten.41 Bei der Aufhebung der Immunität, die Caillaux selbst verlangte und die mit 418 gegen 2 Stimmen beschlossen wurde, gab es schon 140 Stimmenthaltungen,42 aber das Kabinett in der Immunitätsfrage zu desavouieren, konnte der Mehrheit nicht in den Sinn kommen.
Der langsame Gang der Voruntersuchung, in deren Verlauf Caillaux immer wieder vom kriegsgerichtlichen Untersuchungsrichter vernommen wurde, die von der Regierung inspirierte Hetzkampagne um den Zwischenfall von Florenz und mancherlei Gerüchte über die angebliche